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Bordbuch Mai2021: Erste Woche

Ein Gespräch im Jahr 2046:

„Wie war das damals vor 25 Jahren, im zweiten Coronajahr, bevor das dann im Sommer passierte und alles anders wurde? Wie war das Frühjahr?“

Das war eine graue Zeit. Es ging so richtig weder vor noch zurück. Alle waren müde. Es gab viel Streit. Viele waren für schärfere Maßnahmen gegen das Virus. Viele andere hielten das für Quatsch und wollten ihr altes Leben zurück, das ihnen im zweiten Coronajahr plötzlich wie ein verlorenes Paradies vorkam. Alte Freundschaften wurden durch diese Streitereien entzweit. Bei vielen lagen die Nerven blank. Es war klar, dass etwas passieren würde, aber niemand hat natürlich vorausgesehen…“

„Und was habt ihr vorher gemacht, im Frühjahr?“

„Wir haben ein paar Sachen gepackt, sind auf ein Segelschiff gestiegen und dann ging’s los!“

„WAS?? Erzähl!“

„Damit das klar ist: Wir sind natürlich nicht einfach so abgehauen. Wir haben vorher geschaut und getestet, dass niemand die Seuche mit an Bord bringt. Bei Landgängen waren wir vorsichtig und haben die Kontakte minimiert. Und keiner von uns wusste natürlich, wie das enden würde! Hätten wir das gewusst, dann…
Ich habe ein Tagebuch von damals. Mit Geschichten, Bildern, Videos und sogar Konzerten. Willst du es sehen?“

Los geht’s (letzte Aktualisierung: 11. Mai, abends)

Montag, 3. Mai, abends
Wir sitzen in gemütlicher Runde auf nagelneuen Sitzpolstern und grinsen wie die Honigkuchenpferde. Die Sonne scheint, es weht ein günstiger Wind und alle haben problemlos die Anreise zum Schiff gemeistert.
Wir nehmen reihum Abstriche, alle Tests sind negativ. Dann wenden wir uns der  Soljanka  zu. Um 20.30 legen wir ab und Tuckern in den Sonnenuntergang. Über Nacht wollen wir zu Anker gehen, um ungestört zu bleiben. Die Nacht bleibt sehr ruhig, wir schlafen tief und fest, wie Babies.

Blick auf Leuchtturm Hiddesen in der Abenddämmerung

Dornbusch in der Abenddämmerung


Dienstag, 4. Mai
Um 6.00 Uhr gehen wir Anker auf. Gerefftes Groß und Fock sind bald gesetzt, das Frühstück wird gerichtet. Kurs Nordost liegt an, wir machen gute Fahrt. Nach zwei Stunden sind auch Klüver und Besan angeschlagen und gesetzt. Die Arbeit und der einsetzende Seegang haben unangenehme Nebenwirkungen. Aber sie bringen uns auch gut voran! Bald laufen wir mit mehr als sieben Knoten und Rügen kommt außer Sicht, was allerdings auch am trüben Wetter liegt.

Die Kinder bringen im Deckshaus das Home Schooling in Gang: Synonyme, Akronyme und Holonyme; Grundwert, Prozentwert, Prozentsatz. Das geht eine Stunde lang gut, dann schwindet der Empfang. Das Bild flackert oder bleibt stehen, Lehrer und Mitschüler klingen wie betrunken, und das Starren auf den Bildschirm verschärft die ohnehin vorhandenen Probleme mit dem Wohlbefinden.
Diese Probleme mit dem Wohlbefinden bleiben leider nicht auf unsere beiden Home-Schüler beschränkt. Sie greifen geradezu pandemisch um sich und führen leider zu keiner Herdenimmunität, zumindest heute nicht.

Die Restcrew von drei bis vier Personen segelt die Petrine mit 6 bis 8 Knoten Fahrt durch trübes Nieselwetter. Um 14.00 Uhr kommt Backbord voraus Schweden in Sicht und die Welle lässt ein wenig nach. Beim Segelbergen vor Simrishamn um 18.30 herrscht dennoch weiterhin Personalmangel.

Blick auf das Vorschiff des Traditionsseglers Petrine

Ankunft in Simrishamm

Erst zur Soljanka gibt es wieder lächelnde Gesichter und allgemeine Zufriedenheit: Wir haben es trotz widrigem Wetter geschafft: Wir sind in Schweden. Vor dem Einschlafen bekomme ich ein großes Geschenk vom kränkesten Kranken dieses Tages: „Papi, ich bin so froh, dass wir losgesegelt sind…“

Mittwoch, 5. Mai
Die Testprotokolle und andere Papiere liegen bereit, aber es zeigen sich weder Kystvakt, noch andere Behörden, es kommt nicht einmal ein Hafenmeister zum Schiff. Das mag am Sauwetter liegen und stört uns zunächst einmal nicht. Wir starten erfolgreich in den Schiffs-Schulalltag, machen uns mit den Aufgaben (und Aufräumarbeiten) auf dem Schiff vertraut und spüren kein Verlangen, bei diesem Wetter ins Städtchen zu gehen. 

Als wir uns in der Mittagszeit dennoch aufraffen, stellen wir bemerkenswerte Veränderungen fest. Im vergangenen Sommer waren in ganz Schweden keine Menschen mit Maske anzutreffen. Jetzt wird in allen Geschäften, oft sogar auf der Straße FFP2 getragen! Da haben sich die Einstellungen, vielleicht auch die Regeln, augenscheinlich erheblich gewandelt! Ob wir mit Nachfragen wegen unseres Reisegrundes rechnen müssen? Eine Passantin fragt, wie wir unter den Pandemiebedingungen nach Schweden gekommen sind. „Mit Tests und entsprechend den Einreisebedingungen“, antworte ich und bekomme ein Lächeln und ein herzliches Willkommen geschenkt. Aber es ist schon bemerkenswert, angesichts des ersten Segelschiffes der noch nicht gestarteten Saison. Fragen nach Sturm und Wetter müssten sich ja besonders heute aufdrängen; die Pandemie scheint aber die naheliegendere Frage zu sein.

Am späten Nachmittag soll der starke Wind abflauen und der ergiebige Regen aufhören. Um 16.00 Uhr wollen wir wieder lossegeln. Die ganze Crew ist einverstanden und das spricht vor dem Hintergrund der gestrigen Ereignisse für eine hohe Motivation und bemerkenswerte Abenteuerlust.

Gleich vor dem Hafen, noch vor dem Segelsetzen, krängt das Schiff stark über. Es hauen echte Böen ins Geschirr. Von nachlassendem Wind kann keine Rede sein. Das gereffte Großsegel wird gesetzt, mehr nicht. Vor dem Südweststurm laufen wir mit 9 Knoten nordwärts. Das lässt sich gut aushalten, auch der Seegang bleibt moderat, denn der Wind ist ablandig. Aber wo sollen wir landen mit solchem Wind?
Am späten Nachmittag flaut es dann doch ab. Wir setzen die Fock hinzu und erreichen am frühen Abend die Flußmündung von Aahus. Kleines, hübsches Städtchen, echte Hafenstadt mit Frachtumschlag, Yachtstege mit allen Versorgungs- und Entsorgungseinrichtungen, die leider alle geschlossen sind. Und ein Naturschutzgebiet zum Wandern am anderen Flussufer. 

Liegeplatz der Petrine im schwedischen Aahus

Petrine Liegeplatz in Aahus


Es hat sogar aufgehört zu regnen! Und die Heizung sorgt für angenehme Temperatur im Salon, denn draußen ist es durchweg viel zu kalt für Mai. Für das Wochenende sind Nachtfröste angesagt.

„Jetzt mal ehrlich: Das war doch kein guter Start! Erst alle seekrank, dann regnet es in Strömen und als nächstes soll es Nachtfrost geben. Hört sich nicht nach Vergnügen an. Schlägt das nicht auf die Stimmung?“

„Klar hätten sich das alle ein wenig anders gewünscht. Aber wir haben vor allem die positiven Seiten gesehen: Die schnelle Überfahrt, nichts ist kaputtgegangen, wir wurden weder von deutschen Behörden aufgehalten, noch von schwedischen Behörden zurückgewiesen. Alles nicht selbstverständlich. Und das hätte alles das Potential für richtig Ärger gehabt. Schiet op das bisschen seekrank und den Regen.

Vor allem konnten wir guten Gewissens und mit dem geltenden Recht auf unserer Seite zu Zehnt am Tisch sitzen und frühstücken! Durch das viele Testen und den Abstand zu schiffsfremden Personen brauchten wir weder Abstand noch Maske. Nach 14 Monaten Corona war das ein großes Geschenk!“

Donnerstag, 6. Mai
In Aahus ist es trocken. Kalt, aber trocken. Es gibt eine funktionierende Steckdose und einen zugänglichen Wasserhahn an der Pier. Wir beseitigen ein paar technische Probleme und anschließend können wir duschen, Wäsche waschen und Müll entsorgen. 
Der Schulunterricht für Paula und Juri läuft immer routinierter. Ein leerer Akku hier, ein sich plötzlich abschaltendes WLAN dort, streikende SIM-Karten: Alles kann minutenschnell behoben werden, denn wir sind viele und jede/r kann irgendwie helfen.

Der Mensch ist nämlich ein Rudeltier und so funktioniert es am Besten.
Für den Nachmittag ist abflauender Wind und trockenes Wetter versprochen. Ob wir es bis in die Blekinge-Schären schaffen?

Um 13.00 Uhr verlassen wir die gastliche Pier in Aahus und setzen noch in der Flussmündung Segel. Bei achterlichem Wind machen wir moderate Fahrt um 5 Knoten. Es sieht nach dem ersten normalen Segeltag dieser Reise aus. Die Insel Hanö kommt voraus in Sicht und wir passieren sie um 17.00 Uhr. Aus dem Salon duftet es zunächst nach Birnenkuchen mit Streuseln, anschließend nach geröstetem Ofengemüse. In der Abenddämmerung erreichen wir die Schären vor Rönneby. Wir können beinahe bis zum Ankerplatz segeln, der geschützt zwischen den Felsen liegt und für morgen schöne Ausflüge mit dem Beiboot verspricht.
In der Nacht schläft der Starkwind ein; für die kommenden Tage ist eher ruhiges Wetter angesagt. Weiterhin lausig kalt.

Freitag, 7. Mai
Das Homeschooling wird heute wegen der Kälte vom Deckshaus in den beheizten Salon verlegt. Der Mobilfunkempfang lässt das zu. Sobald der Nieselregen aufhört, wird das Beiboot klargemacht, um die Schären zu erkunden.
Lohn des Homeschooling (ACHTUNG: Mit einem Klick auf den Link öffnet sich ein neuer Tab, in dem ein Video von GoogleDrive abgespielt wird)

Die Schäre Harön bietet Lebensraum für Hasen (wie der Name schon sagt), Wildschweine und Wasservögel. Sie weißt allerdings auch Spuren unangemessener menschlicher Nutzung auf: verbrannte Flächen, ein Plattenweg von Nord nach Süd, Bunker.

Vor dem Mittagessen verlassen wir den geschützten Ankerplatz. Der Wind weht heute moderat, was uns erfreut, und aus Osten, was unsere Pläne nicht begünstigt. So kreuzen wir gemütlich auf und erreichen um 17.00 Uhr die Hasslösundbrücke. Nach der Durchfahrt gehen wir vor der Friluftsomrade Almö zu Anker. Hier finden wir Wanderwege, Angelplätze, Feuerstellen, nur die ehemalige Anlegebrücke für die Petrine ist leider zerstört. Uns stört es nicht. Die Kinder machen mit dem Beiboot den Fährdienst und die Erwachsenen vertreten sich die Beine. Alle freuen sich über den ausbleibenden Regen und gelegentliche Sonnenstrahlen.

Samstag, 8. Mai
Noch weht kein Wind, wir fahren unter Maschine ostwärts zum Kalmarsund. Ab mittags soll uns dann der angekündigte Südwest voranbringen, vorzugsweise gleich bis Kalmar.
Zunächst gönnen wir uns einen Ausflug per Maschine durch die Schären bei Torhamnsudde. Bald setzt der Südwest ein und die Mittagssonne (!) scheint auf ein segelndes Schiff im Sonnenschein mit rundum zufriedener und gesunder Crew. Kurs Nordnordost im Kalmarsund. Wenn nichts dazwischenkommt, kommen heute Abend in Kalmar fünf weitere Mitsegler an Bord.

Ab 16.00 Uhr treibt das Wetter allerhand Schabernack mit uns. Wechselnde Richtungen des Windes, heftige Schauer, alarmmäßiges Segelbergen in einer Schauerböe, dann wieder Flaute, 7 Knoten rauschende Fahrt, 2 Knoten Schleichfahrt. Es ist alles dabei.
In den Abendstunden segeln wir mit 2 bis 3 Knoten, es ist sonnig, die von den Kindern gebackenen Muffins sind aufgegessen, Gemüsepfanne ist in Vorbereitung. Wir werden um 22.00 Uhr in Kalmar festmachen.

Sonntag, 9. Mai
Nach dem Frühstück machen wir die neuen Mitsegler mit dem Schiff und den Gepflogenheiten an Bord vertraut. Wir kaufen ein paar Kleinigkeiten ein und ziehen uns warm an, denn es ist lausig kalt und es regnet. Aber das soll heute noch anders werden! Kein Regen ab mittags und für morgen sind 18 Grad im Angebot!

Es weht ein frischer Südwind, es hört tatsächlich auf zu regnen und ab mittags sind wir mit flotter Fahrt gen Norden im Kalmarsund unterwegs.

Es entwickelt sich ein Segeltag wie aus dem Bilderbuch. Achterlicher Wind, es wird stetig wärmer, wir schälen uns Stunde um Stunde aus den vielen dicken Plünnen. Am späten Nachmittag manövrieren wir uns im strahlenden Sonnenschein durch das Schärenfahrwasser vor Paskallavik. Um 18.30 Uhr machen wir dort fest und werden sehr freundlich begrüßt. Kaum eine Yacht liegt im ansonsten gut besuchten Hafen. „Die Pandemie. Der ganze Kalmar Bezirk öffnet erst am kommenden Wochenende.“

Wir richten unser gestern geliefertes SchiffsWLAN ein, genießen die Abendsonne und freuen uns, dass es morgen bis zu 24 grad warm werden soll.

Montag, 10. Mai
Schule und Büro finden heute draußen statt. Wetter und SchiffsWLAN geben das her. Wir nutzen die üblichen Annehmlichkeiten des Hafens- Strom, Wasser, Müllentsorgung, Einkaufsmöglichkeiten- und wollen am späten Vormittag weiter zum Steinbruch fahren.

Homeschooling vor dem Hafengebäude von Paskallavik
Homeschooling vor dem Hafengebäude von Paskallavik
Petrine in Paskallavik

„Strom, Wasser, Müll, das scheint ja damals alles ein Problem gewesen zu sein. Ich meine:  Wasser ist natürlich ein Problem. Aber warum Strom? Und warum habt ihr überhaupt Müll gemacht?“

„Also beim Strom war man damals noch nicht so weit. Ich habe 2020 und 21 mit Solarpanels herumexperimentiert und das brachte schon einiges. Aber wir brauchten auch immer mal wieder Strom aus der Steckdose. Und der Müll… Das war eine einzige Katastrophe. Wenn das Schiff voll belegt war, haben wir täglich einen Sack voll Dinge einfach so weggeworfen.“

„Warum hast du das gemacht? Du hättest die Dinge doch einfach behalten können. Oder garnicht erst einkaufen! Du weißt, wohin das geführt hat!“

„Ja, heute weiß man das, aber damals… Wir wussten 2021 auch schon im Frühjahr, dass es so auf Dauer nicht mehr funktionieren kann. Aber, na ja…. Es war halt alles so eingerichtet.“

„Und ihr habt immer lustig mitgemacht? Nach Schweden segeln und jeden Tag einen ganzen Sack voller Dinge wegwerfen? Und keinem ist das komisch vorgekommen??
Was habt ihr gemacht, wenn kein Wind geweht hat? Mit den Solarpanels von damals konntet ihr ja wohl kaum genug Strom für den Antrieb erzeugen.“

„Nee, das ging nicht.“

„Und?“

„Wir hatten eine Verbrennermaschine. Wie man das damals eben so hatte. Die war sehr sparsam.“

„Aha, sparsam. Und das heißt…“

„Na, so 5 Liter Diesel pro Stunde. Das war damals sparsam!“

„Ich fass es nicht. Aber wahrscheinlich habt ihr Euch genauso wenig dabei gedacht, wie mit dem Müll, oder?“

„Du kannst das garnicht beurteilen, du warst damals nicht mal geboren. Das war eben bevor sich so vieles geändert hat. Da hat die Corona-Pandemie ja auch einiges zu beigetragen. Sommer 2021, sage ich nur. Im Frühjahr waren wir doch einfach froh, diesem grauen Pandemiealltag entkommen zu sein. Es tat sehr gut, durch eigenes Handeln und Initiative den ganzen Einschränkungen und der schlechten Laune im Land zu entkommen. Eine Woche vorher haben wir noch in Quarantäne gesessen. Wir durften das Grundstück nicht verlassen und zu niemandem Kontakt haben! Da war es eine große Erleichterung, in Schweden anzukommen, wo die Dinge ein wenig anders gehandhabt wurden.“

Vor dem Mittagessen tuckern wir ein halbes Stündchen Nordwärts und machen an der Pier beim ehemaligen Steinbruch Solberganäset fest. Hier ist alles für uns vorbereitet: Die Pier mit hundertfünfzig Jahre alten Festmachringen, der Platz für das Lagerfeuer, das moos- und baumüberwachsene ehemalige Steinbruchgelände zum Wandern und Zerstreuen, der Wald zum Brennholz sammeln und für die unerschrockenen Kinder der Sund zum Schwimmen. Wassertemperatur 7 Grad.
Zuvor müssen noch die Hausaufgaben erledigt werden. Juri demonstriert seiner Klasse das Schweißen mit der Elektrode. Paula musiziert mit ihrer Klasse und lässt sich kaum durch die schöne Umgebung ablenken.

Juri schweißt…

Paula spielt Blockflöte…


Wir stellen Tisch, Bänke und Stühle an Land. Bald brennt das Lagerfeuer und der Grill wird im Betrieb genommen. Die Sonne scheint, es ist fast windstill und über 20 Grad warm. Dies wird ein wunderschöner Urlaubsabend.

Und weiter geht es mit dem Bordbuch der zweiten Woche