Bordbuch Mai21: Dritte Woche
Hier folgt das Bordbuch der dritten Woche. Es beginnt mit der Fahrt der Petrine von Visby zu den Karlsinseln vor Gotland am 18. Mai. Was vorher geschah findet Ihr im Bordbuch der ersten Woche und im Bordbuch der zweiten Woche. Im Bordbuch der zweiten Woche wurde noch nachträglich einer Fotogalerie aus Visby eingebaut. Es lohnt sich also auch mal zurück zu blättern!
Letzte Aktualisierung: 28. Mai, abends (direkt zum letzten Tag)
Dienstag, 18. Mai
In der Mittagszeit kommt ein schwacher Nordwestwind auf. Wir setzen alle Segel und schleichen mit 2 bis 3 Knoten auf die Große Karlsinsel zu.
Um 15.30 Uhr machen wir dort am Nordanleger fest. Alle begeben sich sofort auf Inselerkundung, denn morgen früh soll ein frischer Nordwestwind wehen. Der wird das Liegen ungemütlich machen und kann außerdem für die Überfahrt nach Öland genutzt werden. Für Stora Karlsö bleibt der heutige Nachmittag und Abend.
Gleich nach der Einweisung durch die Naturschutzbeauftragte wandern wir los auf das Hochplateau der Insel. Auf dem Wasser war es noch recht frisch, aber hier riecht es bereits nach schwedischem Sommer. Besonders zwischen den Wacholderbüschen fängt sich die Sonnenwärme. Hinzu kommen allerlei Sommergerüche, die nicht unbedingt die Nase erfreuen, denn ringsum ist die Steilküste mit brütenden Vögeln besetzt. Kormorane haben die weniger steilen Abhänge erorbert; die senkrechten Wände bleiben den Lummen und Alkvögeln vorbehalten, die hier zu tausenden brüten. Der Lummensprung Ende Juni (?) ist der höchste Feiertag im Jahreslauf der Ornithologen von Stora Karlsö. Das unablässige Gemurmel der geschäftigen Vögel liegt wie eine Hintergrundmusik über der Insel. Flach auf dem Bauch liegend kann man sich an die obere Kante der Steilküste heranrobben und das Brutgeschäft beobachten, ohne die Vögel zu stören. Auf dem Hochplateau finden wir außerdem wenig scheue Hasen und seltene Pflanzen, darunter Orchideen. Linnés Esche, 400 Jahre alt und wegen der Überweidung bis vor 200 Jahren der einzige Baum auf der Insel, thront am höchstgelegenen Punkt der Insel, inmitten einer bronzezeitlichen Steinsetzung.
Zum Abendessen finden wir uns bei Lachs im Gemüsebett wieder auf dem Schiff ein. Die Mutigsten sind sogar schwimmen gewesen!
Nach dem Abendessen lockt der spektakuläre Sonnenuntergang noch einmal zu einem Gang zur Höhle oder zu den Aussichtsplattformen.
Mittwoch, 19. Mai
Nur vormittags weht der für uns günstige Nordwestwind. Also legen wir bereits um 6.00 Uhr ab. Die Sonne steht schon hoch am Himmel; verschwunden ist sie die ganze Nacht nicht, denn auf unsrer Breite deuten sich schon die weißen Nächte an.
Nach einer Viertelstunde sind alle Segel gesetzt. Am späten Vormittag kommt die Ostküste Ölands in Sicht. Nur zwei für die Petrine brauchbare Häfen gibt es hier. Mittags schläft wie vorhergesagt der Wind ein. Wird er – wie vorhergesagt – zur Kaffeezeit wider einsetzen, diesmal von Süd? Tatsächlich, nach Mittagsschlaf und ausgiebiger Ruhezeit, ungetrübt von alter Welle, denn der Wind ist sanft entschlummert, nicht plötzlich verschwunden, fangen wir ab 14.00 Uhr wieder an, uns mit 2 Knoten und Kurs Nordwest auf die Nordspitze Ölands zuzubewegen. Bald frischt der Wind auf, wir laufen bis zu sechs Knoten in der nachmittäglichen Wärme. Da fällt es nicht ganz leicht, um 17.00 Uhr vor dem Hafen von Böda die Segel zu bergen. Ein alter Fischereihafen wie er schöner kaum gemalt werden könnte. Der Lammbraten aus Farö an grünen Bohnen und Backkartoffeln rundet den gelungenen Tag ab.
Donnerstag, 20. Mai
Glücklich und unerwartet bekommen wir gleich nach dem Frühstück fangfrischen Fisch geliefert! Unglücklich und unnötig nehmen wir beim Ablegen eine Mooringboje mit und reißen unsere Schwerttalje ab. Wieder Anlegen, Hafenmeister winkt ab, die Mooringboje ist in Ordnung und Oskar wird zum Helden, denn er taucht zum Ende des Schwertes und befestigt dort eine Leine.
So kann das Schwert notdürftig wieder aufgeholt werden. Nach einer Dreiviertelstunde ist alles behoben, die Segel werden gesetzt. Eine neue Schwerttalje wird eingeschoren. Um 10.00 Uhr segeln wir mit vier Knoten Fahrt auf die Nordspitze Ölands zu.
„Nun seid ihr also wieder auf dem Heimweg.“
„Joooh, also weiter weg durften wir nun nicht mehr segeln. Am 30. Mai sollten wir wieder daheim sein. Insofern, okay, man kann das „Heimweg“ nennen. Aber da kann ja immernoch viel schönes und aufregendes passieren! Noch sollte mancher Schärenliegeplatz auf uns warten. Aber die Gedanken gingen öfter in Richtung zuhause und was uns dort erwarten würde.“
„Wie hatte sich die Coronalage in Deutschland im Mai entwickelt?“
„Die Zahlen waren massiv heruntergegangen. Um mehr als 50%. Außerdem waren inzwischen alle besonders gefährdeten Gruppen zu 100% zwei mal geimpft. 40% der Bevölkerung war mindestens einmal geimpft. Dennoch erwartete uns bei der Heimreise eine zweiwöchige Quarantäne. Aber das hing in erster Linie mit den hohen schwedischen Infektionszahlen zusammen. Die sanken bereits, waren aber wesentlich höher, als sie in Deutschland jemals gewesen sind.“
„Die Schweden haben es also besonders schlecht hingekriegt mit der Pandemie.“
„Kann man so nicht sagen, finde ich. Die hatten nicht ihr ganzes soziales und kulturelles Leben zum Erliegen gebracht und die hatten die Staatsverschuldung nicht um hunderte Milliarden Euro hochgetrieben wie in Deutschland.“
„Du kannst doch Menschenleben nicht mit sozialem Leben oder der Staatsverschuldung verrechnen.“
„Oh doch. Soziales und kulturelles Leben, das ist psychische Gesundheit und das zählt so viel wie Lebensjahre, finde ich. Und für das Geld, das während der Lockdowns als Entschädigung unters Volk geschmissen wurde – höchst ungleichmäßig verteilt übrigens – hätte man z.B. die Malaria weltweit ausrotten können. Malaria fordert eine Million Tote pro Jahr.
Aber das sollte man vielleicht wirklich nicht gegeneinander aufrechnen. Es reicht, nach Asien zu schauen und sich zu wundern, wie Südkorea, Taiwan, China, Neuseeland mit der Pandemie fertig geworden sind. Kurz und heftig und mit allen Mitteln haben die in zwei bis drei Monaten die Pandemie zum Erliegen gebracht. Im Spätsommer 2020 fanden dort bereits wieder Konzerte, Großveranstaltungen, Partys statt. In Europa hat man 15 Monate grundsätzlich alles zu spät gemacht und dann hat man das Ende auch noch vergeigt, in dem man das Land zu spät wieder geöffnet hat. Die gefährdeten Bevölkerungsgruppen waren wie gesagt bereits komplett geimpft. Trotzdem hat man stets nur auf die Zahl der Infizierten geschaut. Im Mai 2020 sind kaum noch Leute an COVID-19 gestorben.
Also, wenn man die Bekämpfung der Pandemie als Teil des Systemwettbewerbs sehen will, dann stand es Ende Mai 3:0 gegen die europäischen Demokratien. Noch schlimmer fand ich allerdings, dass die Demokratie selber Schaden genommen hatte, weil es keine Debatte über die Maßnahmen geben durfte. Jedenfalls keine gesunde, demokratische Debatte, die sich bemüht, alle Aspekte zu berücksichtigen, um eine gute Lösung zu finden, die dann möglichst vielen Meinungen gerecht wird. Stattdessen wurde Stimmung gemacht, ausgegrenzt, beschimpft. Wie ein Grabenkampf, bei dem sich keiner mehr aus dem Graben heraus traut, um z.B. mal das Gelände zu erkunden oder mit dem Gegner zu reden, anstatt ihn zu beschimpfen.“
„Hmm. Keine guten Aussichten für den Sommer waren das eigentlich…“
„Erstmal mussten wir ja nun sehen, wie wir wieder nach Deutschland reinkommen konnten. Im Nachhinein erscheint es ja immer ganz folgerichtig, wie alles gelaufen ist, aber wenn man mittendrin ist…“
„…sieht es chaotisch und unübersichtlich aus. Sagtest du bereits. Übrigens hast du alles viel zu pessimistisch beurteilt, wie der weitere Verlauf ja beweist.“
„Richtig. Die Dinge können unvorhergesehene Wendungen nehmen, auch zum Positiven. Besonders, wenn die Erwartungen niedrig sind. Der Fall der Berliner Mauer ist auch ein Beispiel dafür. Oder Kurt Tucholsky.“
„Was hat der damit zu tun??“
„Der hat sich umgebracht, im Exil in Schweden am Mälarsee, weil er in den 30er Jahren das Unheil und die Verbrechen in Deutschland vorhergesehen hat. Er hat schwer an seinen Landsleute gelitten und mit seinen Befürchtungen bitter Recht gehabt. Aber 60 Jahre später waren die Deutschen das beliebteste Volk der Welt. Wäre er steinalt geworden, hätte Tucholsky das noch erleben können.
Damit will ich sagen: Es kann alles noch so unausweichlich böse und übel aussehen: Irgendwo hinter allem Übel wird die Sonne wieder aufgehen.“
„Rechnen wir mit dem Schlimmsten, dann werden wir positiv überrascht werden!“
Mittags haben wir dicht an Backbord den Langen Erik, den wir schon von unserer Begegnung vor einer Woche kennen. Allerdings nicht aus dieser Perspektive und bei so schönem Sonnenschein. Der Wind dreht südlich und wir können auf das Schärenfahrwasser vor Kraakelund zusegeln. Um 15.00 Uhr wenden wir vor dem Fahrwasser. Der Wind hat – wie vorausgesagt- weiter rechtgedreht wir und segeln auf Backbordbug gemächlich auf die Blaue Jungfrau zu.
Eine halbe Stunde später frischt der Wind sehr schnell sehr heftig auf und wir laufen Kurs Südsüdwest hoch am Wind mit 7 Knoten. Zwischendurch lässt der Wind ein wenig nach, aber die Fahrt bleibt schnell und der Kurs vor dem Schärengürtel ist genau der richtige für uns: keine Welle, flotte Fahrt. Wir beschließen, heute lange zu segeln, denn in den kommenden Tagen wird der Wind uns wohl nicht günstig sein. Die Fische verschieben wir auf morgen, denn die wollen wir nicht mal so eben zwischendurch verputzen. Nach 60 gesegelten Seemeilen machen wir pünktlich zum Sonnenuntergang um 21.10 Uhr in Borgholm auf Öland fest.
Freitag, 21. Mai
Den Vormittag verbringen wir bei feinstem Sonnenschein in Borgholm.
Borgholm habe ich bislang gemieden. Vor zehn Jahren haben wir einmal hier festgemacht und ich sah keinen besonderen Grund wiederzukommen. Das klotzige Schloss über der Stadt, das eher an eine Festung erinnert, passt in seiner beeindruckenden Größe garnicht hierher. Von Ferne würde es auch als Industrieruine durchgehen.
Aus der Nähe sieht es ganz anders aus! Sand- und Kalkstein und die runden Türme an den Ecken, dazu das viele frische Grün ringsumher: Das Auge kann zufrieden sein. Wenn nur der Kopf nicht immer daran denken würde, dass wir 2015 hier nur um 2 Tage ein Bob-Dylan-Konzert verpasst haben…
Das Schloss wird nämlich auch für größere Veranstaltungen mit bis zu 20.000 Teilnehmern/Zuschauern genutzt.
Aus der Besichtigung ist auch diesmal nichts geworden. Wir radelten in bester Absicht auf das Schloss, die Festung, den Klotz zu, welches auf einer Anhöhe über der Stadt thront. Am Abhang geben hunderte abgestorbene Bäume einen gewöhnungsbedürftigen Anblick ab. Sie sind an einer Pilzkrankheit gestorben und der Abhang wird nicht geräumt, weil viele Insekten hier Lebensraum finden. So erklären es die Hinweistafeln. Das rechnen wir dem Schloss hoch an und wollen versuchen, uns an den Anblick zu gewöhnen. Wir radeln vorbei, denn die steile Treppe verlockt uns Radfahrer nicht. Gucken wir uns erstmal Solliden an, auch wenn wir nicht genau wissen, was das ist. „Schöner Platz in der Sonne“ könnte es eventuell bedeuten. „Das Sommerparadies der königlichen Familie“ erklärt das Plakat am Eingang zum Park.
Wo könnte der Sommer schöner sein als in Schweden? Er ist warm, aber nicht zu warm; er ist sonnenreich, aber es kann auch regnen; er ist voller Blumen, Blüten, Gesumm und Gezwitscher, aber die Mücken! Der schwedische Sommer ist auf jeden Fall kurz und heftig. Und die Schweden verstehen es, den Sommer zu feiern. Gearbeitet wird kaum. Man zieht sich ins Sommerhaus zurück, vorzugsweise in den Schären gelegen, man genießt die endlose Helligkeit und Wärme und tankt Kraft und gute Laune für die lange Dunkelheit und Kälte in der anderen Jahreshälfte.
Wenn sich also ein Platz in diesem Land „Sommerparadies“ nennt und behauptet, einer königlichen Familie würdig zu sein, der königlichen Familie, die über das Sommerland schlechthin herrscht, dann dürfen wir einiges erwarten. Und Solliden enttäuscht uns nicht.
Es gibt einen Rosengarten, eine verwilderte Tulpenwiese, Zedern, Zypressen, Walnussbaum, Rotbuche und japanische Kirsche. Wunderschöne Wege mit Holzstreu, dazu Glaskunst unter blauem Himmel auf grüner Wiese. Ein Wasserfall, ein verwunschenes Spielhaus für die Prinzessinnen, Skulpturen in Granit, Marmor und Sandstein. Über und inmitten von allem ein schwedisch-mediterranes Schloss, kleiner als manches Rüganer Gutshaus, mit passenden Proportionen, weißer Fassade, natursteineingefassten Fenstern und kupfergrünem Dach. Das Haus dürfen wir nicht besichtigen, es ist der königlichen Familie vorbehalten.
Zum Trost lässt der König uns in einer Fotoausstellung an seinen persönlichen Erinnerungen an die Sommer in Solliden teilhaben. Seit 1948 ist er jedes Jahr im Sommer hier gewesen. Wir sehen ihn als Schietinnebüx in dicken Windeln mit seinem 92jährigen Urgroßvater König Gustav dem Fünften Kricket spielen, wir sehen den erwachsenen König am Mittsommerfest beim Sackhüpfen, wir sehen den alten König, der mit dem Glaskünstler Vallien ein Glasboot baut. Wenn wir wollen (und wenn wir nicht auch andres gelesen hätten) , sehen wir einen glücklichen Menschen in seinem Sommerparadies.
Die Schweden, die verstehen was vom Sommer. Sie wissen ihn zu schätzen, denn er ist kurz. Sie wissen etwas daraus zu machen. Das sehen wir hier in Solliden, im Sommerparadies, wo sie dem Sommer ein Denkmal gesetzt haben.
Schloss Borgholm kann ich auch heute nicht besichtigen, denn die Petrine soll um 14.00 Uhr ablegen. Ziel Kalmar, gegen den frischen Südwestwind.
Nichts ist mit Kalmar. Nach zwei Stunden Ackerei mit der Maschine gegen den frischen Südwestwind leckt die Dieselleitung vom ersten Zylinder. Die Maschine läuft mit weniger Kraft, der Maschinenraum wird gefährlich mit versprühtem Diesel eingenebelt. Die Leitung wird notdürftig abgedichtet und wir ermitteln den ersten verfügbaren Hafen: Revsudden auf der Halbinsel Skäggenäs. Nicht sehr tief und wenig Platz haben sie auch. Um 17.20 Uhr liegen wir dort von Anker und sind am Heck an einem verfallenen Betonquader fest. Landgang mit dem Beiboot. Revsudden ist ein schöner ehemaliger Fischereihafen, der noch nicht den Weg zum Yachtregal gegangen ist. Normale Böötchen, wahrscheinlich von ortsansässigen Leuten.
Interessiert das jetzt gerade? Sollten wir uns nicht besser um unsere lecke Dieselleitung kümmern? Sicher, aber die ortsansässigen freundlichen Leute erweisen sich als Schlüssel zum Erfolg bei der Reparatur der Leitung. Gösta kommt vorbei, mit viel Hilfsbereitschaft, aber nur knapp genug Fachkenntnissen. Macht nichts, wir haben Helge. Gemeinsam gehen sie zu Göstas wohlsortierter Werkstatt und kommen gegen 20.00 Uhr mit hartgelöteter Dieselleitung zurück. Maschine gestartet, Leitung dicht. Plan B, nämlich die Perfektionierung der Schiffseigenen Lötmittel, hat ebenfalls funktioniert. Matthias kehrt mit allerhand Material vom Ausflug nach Kalmar zurück. Wir klaren die Baustelle auf und danken Gösta mit einem Kasten Bier und Petrinepullover.
Samstag, 22. Mai
Heute verlassen uns wie geplant vier Mitsegler und reisen nach Deutschland zurück. Um 9.00 Uhr legt die verbleibende Crew in Revsudden ab. Es bleibt ein kleiner lokaler Fanclub zurück. Bei Sonnenschein und Südwind wollen wir es heute wieder mit Kalmar versuchen.
Tatsächlich machen wir nach zwei Stunden Maschinenfahrt um 11.20 Uhr in Kalmar fest. Über Mittag halten wir uns in der Zivilisation auf und nutzen auf unterschiedliche Weise ihre Angebote. Leider nimmt der Südwind in dieser Zeit noch mehr zu. Ab 15.00 Uhr bolzen wir mit voller Kraft gegen Wind, Strom und Welle. Zwei bis drei Knoten sind unser hart erkämpfter Lohn. Gegen Abend lässt der Wind ein ganz klein wenig nach und um 19.20 Uhr fällt der Anker vor dem (zu) kleinen und (zu) flachen Hafen von Ekenäs. Dank des Sonnenscheins, der uns den ganzen Tag begleitet hat, dank der dichten Dieselleitung und dank Hans‘ Mango-Linsen-Chutney bleibt uns die gute Laune erhalten. Das nutzt der Käpt’n und verkündet: morgen früh um 4.00 Uhr geht es Anker auf. Um diese Zeit soll der Südwind eine kleine Schwächephase haben.
Pfingstsonntag, 23. Mai
Zum Anker auf um 4.00 Uhr erwartet uns tatsächlich nur schwacher Südwind. Der versprochene Sonnenaufgang über Öland findet allerdings nicht statt; stattdessen nieselt es. Egal, Kurs Süd im Kalmarsund, immer schön an der Festlandsküste entlang. Um 8.30 Uhr machen wir pünktlich zum zweiten Frühstück in Kristianopel fest. Es riecht hier gut nach frisch Gebackenem und der Käpt’n begibt sich an Land, um nach der Bäckerei zu suchen. Erfolglos. Stattdessen erwartet ihn ein Blaubeerkuchen mit Streuseln, ein geschmückter Salon und eine Blaskapelle! Da hat er so beiläufig mit dem Rudergänger gequatscht über seinen Umzug vom festen Haus auf die Petrine, an Pfingsten 1991, also vor genau 30 Jahren. Und dann sind fleißige Hände heimlich tätig gewesen und Geschichtenerzähler haben geschickt den Verdacht auf die ortsansässige Bäckerei gelenkt, die garnicht existiert. Da ist er aber gerührt…
Im Laufe des Nachmittags hauen kräftige Böen ins Rigg. Heute ist wieder kein Tag zum Segeln, jedenfalls nicht in südlicher Richtung. Wir liegen schön geschützt, wir haben noch Blaubeerkuchen, das Dörfchen lädt auch ohne Sonnenschein, aber bei trockenem Wetter zum Spazierengehen ein und am Nachmittag beginnt es im Salon nach Irish Stew zu duften. Im Laufe des Montags soll der Wind erst abflauen und dann auf Südost drehen. Diesen Wind wollen wir nutzen, so lange er weht. Ist Kristianopel bereits der letzte schwedische Hafen unserer Reise?
„Dies ist nun der dritte Tag ohne Segeln. Hattet ihr wenigstens schöne Landgänge?“
„Also in Borgholm, das war ja wohl eindeutig schön. Sogar sehr schön. In Revsudden ist kaum jemand an Land gegangen, weil es schwierig war mit Beiboot und Betonquader. Aber da haben wir ja richtig was an Bord erlebt. Mit Happy End! In Kalmar sind dann sofort alle ausgeschwärmt und haben irgendetwas „städtisches“ unternommen. Wegen der Pandemie durften wir uns nicht mehr als nötig unter die Leute mischen, keine Museen z.B., kein Kalmarer Schloss, leider. Das war sowieso alles zu. Aber ein Café mit Tischen an der frischen Luft, ein Mittagsbuffet, ein Süßigkeitenladen, der ICA für den Schiffseinkauf, das sind dann schon lohnende Abwechslungen. Und die werden erst so richtig schön, wenn man nassgeregnet, durchgefroren oder sonstwie fertig dort ankommt. Nur übernächtigt ist nie schön. Und das muss hier mal erwähnt werden: Bislang haben wir jede Nacht prima geschlafen und das bei der beträchtlichen Strecke, die wir zurückgelegt haben. Nachts lagen wir im Hafen oder sicher vor Anker. Aber das sollte ja nun anders werden. Wenn der günstige Wind knapp wird, muss er zu jeder Tages- und Nachtzeit genutzt werden.
Und: von Borgholm nach Utklippan tuckern, das sind 70 Meilen. Die haben wir portioniert zu erträglichen Häppchen von je 4 Stunden und hatten schöne Landgänge zwischendurch. 2014 in Norwegen sind wir mit Maschine von Egersund bis Stattland gefahren, ca 300 Seemeilen, immer nur Nordwind. Noch schlimmer 2008, auf dem Weg nach Brest, da lagen wir vier Tage auf Alderney an einer Mooringboje. Landgänge nur mit dem Beiboot, zumindest wenn der Außenborder anspringt. Alles bei Regen, Sturm und beträchtlicher Welle im schlecht geschützten Hafen. Wer es bis zum Strand geschafft hatte, war so K.O. und nass, dass er gleich wieder zurück an Bord wollte. Ich war kurz davor, das Schiff auf den Strand zu setzen, damit wir wenigstens mal ruhig schlafen können.
Aber im Nachhinein spielen diese Dinge nur eine untergeordnete Rolle. Die schönen Erlebnisse bleiben im Gedächtnis, die schlechten werden umgearbeitet und irgendwann ist es dann sogar cool, davon zu erzählen, was man alles erlebt, ertragen, erduldet hat. Ausgestandene Kämpfe; Narben, die stolz vorgezeigt werden. Die schönen Erlebnisse strahlen dann um so heller: Sie sind uns nicht nur zugefallen durch eine Laune des Schicksals, wir haben sie uns erkämpft, allen Widrigkeiten zum Trotz.„
„Helden wie Ihr!“
„Du wirst noch froh sein, wenn es dir gelingt, von deinen Misserfolgen und Fehlschlägen stolz zu erzählen! Die allerhöchste Kunst ist es, die Leichen aus dem Keller zu holen und eine Ausstellung daraus zu machen. Aber so sind die wenigsten.“
„Zeig mir mal eine Leiche!“
„Sei froh und dankbar, dass du dir ein paar Narben begucken darfst.“
Pfingstmontag, 24. Mai
Um 6.00 Uhr puzzeln wir uns aus dem Hafen von Kristianopel heraus. Gegen schwachen Südwind fahren wir mit der Maschine auf das Südwestende des Kalmarsunds zu. Alle sind frisch getestet, gefrühstückt und zur Einreise in Deutschland registriert. Schweden haben wir hinter uns gelassen und auf der Petrine befinden wir uns ja auf deutschem „Boden“. Gegen Mittag soll Südostwind einsetzen, der uns dann hoffentlich nach Rügen bringt.. Bis 13.00 Uhr müssen wir gegen den Südwind und dann in der Flaute mit Maschine fahren. Dann können wir bei der Felseninsel Utklippan alle Segel setzen. Im Laufe des Nachmittags müssen wir Topsegel und Flieger bergen. Wir laufen konstant über sieben Knoten. Und alles in der Sonne. Die Schiffsbewegungen bleiben erträglich und um 22.00 Uhr passieren wir Sandhammer, die Südostecke von Schonen. Der südöstliche Wind soll uns die ganze Nacht begleiten.
Dienstag, 25. Mai
Die Petrine liegt vor Anker im Rassower Strom zwischen Poggenhof auf Rügen und der Halbinsel Bug. Es nieselt, im Salon wird Trompete und Saxophon gespielt, bald sollen alle wieder wach sein und zu Abend essen.
Wir sind sehr schnell durch die Nacht gesegelt. Um 22.00 Uhr haben wir Kap Sandhammaren passiert und sind dann weiter vor dem Wind durch die Vollmondnacht geflogen, zeitweise mit mehr als sieben Knoten. In den Morgenstunden schwächelte der Wind; Gewittergrummeln war zu hören; dazu machte die alte Welle das Leben an Bord ungemütlich. Also sind wir von 7.00 bis 11.00 Uhr die restlichen 15 Meilen zum Libben mit Maschine gefahren. Die schwedische Gastlandflagge haben wir gegen die gelbe Quarantäneflagge getauscht. So langsam trudeln die ersten Nachfragen der Gesundheitsämter ein. Niedersachsen war am Schnellsten.
Heute und Morgen werden wir vielleicht erleben, wie die Obrigkeit unser Vorgehen bewertet. Wir arbeiten derweil das Schlafdefizit ab, sortieren die Fotos, die Erinnerungen und uns selbst.
Mittwoch, 26. Mai
Nach dem gestrigen Filmabend (Tribute von Panem, Brooklyn 99) haben wir gut geschlafen. Nach dem Frühstück wird noch lange geschwatzt und erzählt, sodass die Segel erst um 10.40 Uhr gesetzt werden. Anker auf ohne Maschine, Kurs Fahrwasser zum Jasmunder Bodden. Wir passieren die Wittower Fähre und es wird angemerkt, dass diese Gegend hier den Vergleich mit Schweden nicht scheuen muss. „Deswegen hätten wir garnicht so weit weg fahren müssen!“ Das ist richtig und eine der lohnendsten Erkenntnisse beim Reisen: Wie schön es doch daheim ist!
Und wie kalt! Keine 10 Grad, der Himmel sieht unruhig aus und um 13.30 Uhr geraten wir auf dem Jasmunder Bodden in eine ausgewachsene Gewitter- und Hagelfront. Es kracht gewaltig, ganz in der Nähe, das Wasser schiesst in Lee durch die Speigatten. Als alles vorbei ist, liegt genug Gefrorenes an Deck für eine Schneeballschlacht.
Wir verzichten. Zu früh erreichen wir Ralswiek, wenden noch einmal und segeln auf die Banzelvitzer Berge zu. Die sehen recht einladend aus in ihrem frischen Grün und der Wind schläft auch so langsam ein. Um 15.05 fällt der Anker vor der Steilküste. Das Beiboot wird für einen Landgang vorbereitet.
Aber halt! Wir sind ja in Quarantäne. Beachtet die gelbe Flagge und die Einreisebestimmungen für Schwedenrückehrer. Da trifft’s sich gut, dass es bald wieder zu nieseln beginnt….
Donnerstag, 27. Mai
Mehrere fleißig rufende Kuckucke und der frischgrüne Wald sind zu einladend. Wir werden schon niemandem begegnen, die Banzelvitzer Berge sind eine der entlegensten und vergessensten Ecken von Rügen. Sie sind außerdem von einem beeindruckend urwüchsigen Wald bewachsen, wie wir feststellen. Am westlichen Ende des Waldes wachsen ganze Wiesen von rotem Klee und wir haben eine tolle Aussicht über den Norden Rügens bis nach Hiddensee. Ein bellender Hirsch läuft vor uns weg, ein Dachs versteckt sich in seinem frisch gegrabenen Bau, überall sehen wir Spuren der Wildschweine und unablässig rufen die Kuckucke.
Kurz vor Mittag gehen wir Anker auf und trödeln uns nordwärts aus dem Jasmunder Bodden heraus. Um 12.30 Uhr werden wir sehr plötzlich sehr viel schneller, der Wind dreht hin und her und ist dann gänzlich weg. Wir gehen vor der Schaabe zu Anker. Mittagsschlaf, Film im Salon.
Um 17.00 Uhr liegen wir mit dem Heck im Fahrwasser, denn der Wind hat auf Nordost gedreht. Die Chance lassen wir uns nicht entgehen: Anker auf, Segel gesetzt. Sehr langsam segeln wir vor dem Wind in die Abendsonne, der Wittower Fähre entgegen. Die wird um 19.45 passiert und eine Stunde später fällt der Anker im Rassower Strom vor der Poggenhofer Anlegestelle. Ein schöner letzter Segeltag. Und ein schöner vorletzter Tag unserer Quarantäne.
„Meinst du im Ernst, dass das eine richtige Quarantäne ist: In MV ist das Segeln mehr oder weniger verboten und ihr segelt lustig umher und nennt das dann auch noch Quarantäne! Da soll man zuhause sitzen und sich langweilen!“
„Ja, so eine Reaktion hatte ich von den Behörden eigentlich auch erwartet. Aber die haben sich unsere Geschichte angehört und fanden sie ganz vernünftig. Wir haben uns fünf Tage abgesondert vom Rest der Menschheit, damit wir weder andere noch andere uns infizieren können. Wir sind zu Beginn und zum Ende dieser fünf Tage fachgerecht getestet worden und so war hundertprozentig gewährleistet, dass niemand von uns die Seuche aus Schweden importiert und in Deutschland verbreitet. Das entspricht im übrigen dem Sinn einer Quarantäne und dass sie auf dem Schiff stattfindet entspricht sogar dem historischen Ursprung des Wortes: vierzig Tage mussten die Schiffe in Pestzeiten warten, bevor sie einen Hafen anlaufen durften.
Ich finde es für die damalige Zeit beeindruckend verantwortungsvoll und einsichtig, wie sich das Gesundheitsamt verhalten hat. Das entsprach nicht meinen Vorurteilen. Die hab ich bei der Gelegenheit also schwungvoll über Bord geworfen.“
„und alle fuhren nachhause und lebten glücklich und zufrieden bis ans Ende…“
„Ja, vielleicht nicht immer glücklich, aber ich bin sicher, die Erinnerung an diese Reise gehört für alle, die dabei waren, zu ihren glücklichen Erinnerungen. Für mich ganz bestimmt! Stell dir doch mal vor, diese Coronazeit, wo alles mögliche verboten war. Man durfte nur sehr eingeschränkt überhaupt Freunde treffen, man musste ewig Masken aufsetzen, dass garnicht zu sehen war, ob gelächelt oder geschmollt wurde, man konnte weder Konzerte noch Fußballspiele besuchen. Für viele kamen Existenzsorgen hinzu. Bewegungsmangel! Und wenn wir uns jetzt nach 25 Jahren an diese Zeit erinnern, dann denken wir an den Frühling in Schweden, an die Tage im Steinbruch, im Trollwald, im Schlosspark Solliden. Dann können wir guten Gewissens sagen: Wir haben was aus unseren Möglichkeiten gemacht. Wir haben tolle Geschichten erlebt.
Das ist es doch, was am Ende eines Lebens zählt: Die Geschichten. Die guten und die weniger guten, sogar die ausgesprochen schlechten, zusammengenommen ergeben sie unser Leben. Die sterben noch nicht mal mit uns, die geben wir weiter an unsere Kinder und Enkel. Sogar dann, wenn wir sie ihnen nicht erzählen! Schau mal, meine Eltern und Großeltern, die haben ja noch den zweiten Weltkrieg erlebt, zum Teil mit ganz entsetzlichen Erlebnissen. Ob sie das ihren Kindern erzählt haben oder nicht: Wir haben von ihnen einen Rucksack voller Geschichten vererbt bekommen. Manch ein Rucksack war voller Steine und eine einzige Last. Andere hatten alles drin, was in einen Rucksack reingehört: Butterbrote, Wasserflasche, Pflaster für die Blasen, dicke Jacke, wenn’s mal kalt wird.
In der Coronazeit wurden hauptsächlich Steine in die Rucksäcke gepackt. In vielen Familien sind schlimme Dinge passiert. Wirtschaftliche Sorgen bis zur Existenzvernichtung. Und 100.000 Menschen sind gestorben. Bestimmt noch einmal die gleiche Anzahl wurde durch die Krankheit fürs Leben geschädigt. Das können wir alles nicht ungeschehen machen, aber wir können dem ein paar schöne Geschichten entgegensetzen.“
„Und was machen die Leute, die überwiegend Steine in ihren Rucksack bekommen haben?“
„Bestenfalls schaffen sie es, die Steine auszusortieren. Irgendwas draus bauen, wegschmeißen, egal. Hauptsache sie schaffen es, die Steine nicht ihren eigenen Kindern in den Rucksack zu legen! Ihr sollt doch euer eigenes Leben leben. Mit ein bisschen leichtem Marschgepäck. Schöne Erinnerungen an die Abenteuer der Kindheit. Nichts belastendes jedenfalls.“
„Und dann wurde es Sommer.“
„Als wir zurückkamen, waren die Bäume richtig grün und es blühte überall. Es war Frühling und der Sommer stand vor der Tür. Da wurde alles noch einmal ganz anders.“
Freitag, 28. Mai
Warm wird es wohl in diesem Monat Mai nicht mehr werden. Aber heute bleibt es trocken und sonnig. Wir klaren das Schiff auf und bereiten unseren Quarantäne-Abschieds-Abend vor. Wir erwarten Gäste. Und morgen fahren wir alle heim. Reich beladen mit schönen Geschichten.
…und ein Schlusswort von Thomas Maresch per Mail:
Tach, ihr Helden,
da ist mir zu eurer Reise doch Dante’s Inferno eingefallen!
Er lässt Odysseus sich rechtfertigen mit den Worten:
„Nichts dämpfte mir die glühenden Wandertriebe
Um Länder, Meer und Menschen zu erkunden
Dass fremd mir Laster nicht noch Tugend bliebe.
Mit kleiner Mannschaft, längst als treu befunden
Mit einem Schiff nur gings hinaus die Pfade
ins offene weite Meer zu fremden Sunden…“
Das habt ihr geschafft, und ich beglückwünsche euch dazu!
Vielleicht sollte man Reisen zur Pflicht machen; Mark Twain hatte auch eine Meinung dazu:
„Reisen ist für Vorurteile, Bigotterie und Engherzigkeit lebensgefährlich, und viele unserer Leute benötigen es aus diesem Grunde dringend:“
Ich wünsche euch eine problemlose Einreise in heimische Gestade, Landgang bis zum Wecken!