4. Nordmeertörn – Abenteuer Arktis
Samstag, 8. Juli
Den ganzen Tag über reisen Nordkapsegler ab und es treffen Russlandsegler ein. Es ist sonnig, die viele gewaschene Wäsche trocknet gut. Die Stadt Kirkenes lockt nur sehr mäßig, die schöne Umgebung ist sehr weitläufig. Schiffsarbeiten werden erledigt.
Sonntag, 9. Juli
Um 16.00 sind alle Arktisreisenden an Bord. Wir stärken uns mit einer kräftigen Hühnersuppe und richten uns an Bord ein.
Begrüßungsrunde, Sicherheitseinweisung, Wacheinteilung. Um 19.30 legen wir ab mit Ziel Murmansk. Läuft alles gut, werden wir am Dienstag dort ankommen.
Zunächst motoren wir aus den Kirkenesfjorden heraus, einer schönen Mitternachtssonne entgegen. Es weht kein Wind, dafür werden wir mit Belugawalen entschädigt.
Montag, 10. Juli
In den Morgenstunden können wir nordlich der Rybatschi-Halbinsel Segel setzen. Mühsam kreuzen wir gegen schwache östliche Winde. Es ist ungewöhnlich warm, gute Sicht, gute Laune und unser erster Tag in russischen Gewässern. Bis zum späten Abend segeln wir hoch am Wind, fahren Wende nach Wende bis auf 16 Meilen an den Kolafjord heran. Dann schläft der Wind ein und wir tuckern den Bergen entgegen, die Murmansk vor der Barentsee verbergen. Im Fjord tauchen dann in der ansonsten menschenleeren Landschaft sehr plötzlich Hafenanlagen und große Städte auf, Poljarnyi und Seweromorsk, die Heimathäfen der ehemals Roten Flotte.
Dienstag, 11. Juli
Um 4.00 kommt der Lotse an Bord und 3 Stunden später machen wir am Fuße des Häusergebirges von Murmansk fest. 2 Stunden später sind die Einreiseformalitäten so weit erledigt, dass die Crew in die Stadt gehen darf.
Der Käptn wird noch bis 16.30 von diversen Offiziellen auf Trapp gehalten. Erst als auch der letzte Feuerlöscher überprüft und keine Papiere mehr zu bearbeiten sind ist ganz sicher: Wir dürfen nach Russland einreisen und 4 Wochen durch das Nordmeer segeln!
Mittwoch, 12. Juli
Murmansk ist wirklich keine Stadt, die auf Anhieb sympathisch und einladend wirkt. Eigentlich sieht Murmansk genau so aus, wie eine Stadt nicht aussehen sollte. Riesige Plattenbauten, breite Straßen, das Unkraut als einzige Grünpflanze wächst bis vor die Haustüren, Staub und Müll liegen überall herum. 90 Jahre ist diese Stadt jetzt alt und was schiefgehen kann bei der Planung einer Stadt ist hier schiefgegangen.
Um so überraschender, was für freundliche, hilfsbereite und kompetente Menschen hier wohnen. Und wie kontaktfreudig die Leute sind, trotz einer so abweisenden und schroffen Lebensumwelt. Dieser Moloch hat doch ganz erstaunliche menschliche Blüten hervorgebracht. So ist denn auch bis zum Nachmittag dank der Hilfe von allen Seiten alles organisiert und eingekauft, was wir für den langen Weg nach Naryan-Mar benötigen, alle Behörden sind zufriedengestellt und um 21.00 wollen wir ablegen. Nur das Bezahlen der Rechnung von Agenten, Lotsen und Hafen ist trotz zweistündiger Bemühungen in einer Bank, unermüdlichem Einsatz mehrerer Leute, permanenten Mobiltelefonaten und viel technischem Gerät letztlich nicht möglich gewesen. Wir haben eine schöne russische Lösung gefunden: Wir bezahlen, wenn wir wiederkommen.
Um 21.15 sind alle Ablegeformalitäten erledigt. Der lustige Lotse von vorgestern kommt an Bord und wir legen ab zu einer schönen Fahrt aus dem Kolafjord. Lotse Sergey will trotz völliger Flaute unbedingt Segel gesetzt haben. Wir tun ihm gern den Gefallen und er fotografiert ausgiebig.
Donnerstag, 13. Juli
Kurz nach Mitternacht geht Sergey von Bord, eine halbe Stunde später kommt günstiger Wind auf. Die letzten Meilen aus dem Fjord können wir segeln und um 2.00 gehen wir in der Kolabucht im Mitternachtssonnenschein auf Ostkurs. 2 Stunden später segeln wir durch den schmalen Sund zwischen der Insel Kildrin und dem Festland. Irgendwie spricht sich auf dem ganzen Schiff herum, welch traumhafter Sonnenschein auf die Felsen, die kleinen Wäldchen, die Wiesen und die Strände scheint. Morgens um 5.00 ist großes Gedränge an Deck, kaum jemand bleibt in der Koje. Wir segeln mit über 6 Knoten ostwärts, was für ein schöner Auftakt unserer Reise nach Naryan-Mar. Etwa 600 Seemeilen liegen vor uns. Bis zum Nachmittag scheint die Sonne und wir machen flotte Fahrt in Sichtweite der Küste der Kolahalbinsel. Dann dreht der Wind und abends laufen wir hoch am Südostwind immer weiter von der Küste weg. Der Wind nimmt kontinuierlich zu und wir laufen zeitweise mit 8 Knoten nach Ostnordost. Um Mitternacht binden wir ein Reff ins Groß und bergen den Flieger.
Freitag, 14. Juli
In den frühen Morgenstunden schläft der Wind zunächst ein, dreht dann wieder auf West und wir können alle Segel setzen. 3 Knoten Fahrt, Sonnenschein, die See beruhigt sich wieder. Nachmittags machen wir gar keine Fahrt mehr, dafür können wir – leider erfolglos – angeln und im T-Shirt in der Sonne liegen. die Kolahalbinsel liegt 60 Meilen im Südwesten, Kanin Nos liegt 60 Seemeilen im Südosten. Land ist also keines mehr zu in Sicht, aber gelegentlich sehen wir Fischkutter am Horizont. Auch ein sehr großer Eisbrecher passiert uns in Sichtweite. Raubmöwen und Eissturmvögel nähern sich ungewohnt furchtlos, landen auf Mastspitze und Bugspriet und bald muss die Klar-Deck-Wache die Schrubber schwingen. Am späten Nachmittag nimmt die Petrine wieder Fahrt auf. Mit wechselnden Winden, bei Sonnenschein und ruhiger See kommen wir langsam unserem Ziel näher. Um Mitternacht haben wir 240 Seemeilen seit Murmansk zurückgelegt.
Samstag, 15. Juli
Heute ist ein grauer Tag. Der Himmel ist bedeckt mit Schichtwolken. 2 bis 3 Windstärken aus wechselnden, meist westlichen Richtungen treiben uns moderat voran. Schiffe sehen wir heute keine. Wir backen Bananen-Mandel-Kuchen und abends drei Pizzableche. Ansonsten wird bemerkenswert viel geschlafen an Bord.
Sonntag, 16. Juli
In den Morgenstunden flaut der Wind ab und erstmals seit Verlassen des Kolafjordes laufen wir 3 Stunden mit Maschine. Dann kehrt der Nordwest zurück und um 11.15 kommen Backbord voraus die Hügel der Insel Kolguyew in Sicht. Kolguyev ist etwa 5000 Quadratkilometer groß und die bewohnte Siedlung Bugrino mit geschütztem Ankerplatz liegt an der Südküste. Am Nachmittag frischt es auf und mit bis zu 8 Knoten laufen wir in Sichtweite des endlosen Sandstrandes die Südküste von Kolguyew entlang. Seit wir Murmansk verlassen haben, hat es nicht geregnet. Um Mitternacht fällt der Anker vor dem Dorf Bugrino an der Südküste von Kolguyew.
Montag, 17. Juli
Einige pfiffige Jungen kommen schon bald in einem kleinen Boot zu uns herangefahren und begrüßen uns. Sie wollen Kartoffeln und Gemüse kaufen. Die Läden im Ort sind ausverkauft, denn seit einem Monat ist kein Schiff gekommen. Kartoffeln und Gemüse haben wir an Bord, ob wir Fisch dafür eintauschen können? Nein, Fisch gibts zur Zeit keinen, wir können Gänse bekommen. Wunderbar, wir machen ebenfalls das Boot klar und setzen trotz nächtlicher Stunde zum Dorf über. Hier wohnen 500 Nenzen. Sie leben von Rentierzucht, Fischfang und Jagd. Es gibt einen Generator, eine Post, ein Hotel, einen Kohlenhandel, viele Hunde, Kindergarten und Schule für die 220 Kinder von Bugrino. Gerade werden neue Häuser gebaut, denn der Ort wächst. Das alles erfahren wir von unseren Begleitern, die ihre Familien wecken, weil Besuch gekommen ist, auch die Kinder stehen auf, egal, es sind sowieso Schulferien, also werden auch die Nachbarskinder geweckt. Dazu scheint die ganze Zeit eine wunderbare Mitternachtssonne auf Dorf, Strand, Weiden und arktische Blumenwiesen. Was für ein Glück für uns, dies so erleben zu können. Um 6.30 sind alle Einheimischen wieder an Land und alle Segler wieder an Bord. Anker auf und weiter gehts nach Osten. Von dort kommt auch der Wind, sodass wir den ganzen Tag bei wolkenlosem Himmel, 5 bis 8 Grad und Sonnenschein unter Maschine fahren. Vormittags wird geduscht mit warmem Salzwasser aus der Maschine, nachmittags werden die Gänse gerupft, ausgenommen, zerlegt, gekocht und zu Frikassee verarbeitet und im übrigen wird heute besonders viel geschlafen.
Dienstag, 18. Juli
Die Mitternachtssonne am wolkenlosen Himmel kommt dem Horizont gefährlich nahe. Gegenüber der Sonne, südlich von uns, ein Strand von 100 km Länge, die Halbinsel Russki Zavorod. Sie trennt die Pechorabucht von der Barentsee und nur vereinzelt hat sich Dünenvegetation hier festkrallen können. Mittags haben wir die Halbinsel und die anschließenden Inseln gerundet, können auf Südkurs in die Pechorabucht gehen und endlich wieder Segel setzen. Die Sonne bleibt uns den ganzen Tag erhalten, langsam wird es sogar wärmer und es beginnt nach Land zu riechen.
Mittwoch, 19. Juli
Genau um Mitternacht haben wir die Ansteurung der Pechora erreicht. Pechora? Das ist Europas sechstlängster Fluss, 1800 km lang, entspringt weit im Süden im Ural und mündet in einem gewaltigen, völlig unregulierten Delta in die Barentsee. Eigentlich sollte bei der Ansteuerung ein Lotse an Bord kommen für die verbleibenden 70 Meilen bis Naryan-Mar. Da kein Lotse kommt, machen wir uns unter Maschine auf den Weg stromaufwärts. Knapp die Hälfte der Seezeichen, die in der Karte verzeichnet sind, finden wir tatsächlich am Platze vor.
Die Unordnung ist verzeihlich, denn Seefahrt ist hier nur 100 Tage im Sommer möglich, die übrige Zeit ist der Fluss vereist. Um 2.00 geht ein gewaltiger Gewitterregen auf die Petrine nieder, 2 Stunden später ist die Sonne wieder da. Auch heute Nacht ist sie nicht ganz verschwunden, sondern nur mit der Unterkante unter den Horizont gerutscht.
Dennoch ein ungutes Gefühl: Die Mitternachtssonne werden wir dieses Jahr nicht mehr sehen… Der Strom hat niedrige Ufer, vereinzelt stehen Häuschen in der Tundra, hier ist Rentierweideland. Erste Mücken werden auf dem Schiff gesichtet. Ungewöhnlich große Mücken.
Viele Meilen fahren wir an Schilfinseln und Sandbänken vorbei bis wir um 13.30 in Naryan-Mar festmachen. Naryan-Mar hat 20000 Einwohner, das sind die Hälfte aller Menschen die im Autonomen Gebiet der Nenzen leben, ein Gebiet größer als Deutschland.
Donnerstag, 20. Juli
Tagesausflug zu historischer Stätte
Freitag, 21. Juli
Um 20.30 legt die Petrine in Narjan-Mar ab. Ausnahmsweise sind mehr Fotoapparate und Kameras auf uns gerichtet, als wir selber aufbieten können. Bei mäßigem Nordwind tuckern wir auf der Pechora stromabwärts zur Barentsee. Knapp 100 Seemeilen sind es bis dorthin.
Samstag, 22. Juli
Mittags verlassen wir das Delta und können in der Pechorabucht Segel setzen. Gegen den Nordwind kreuzen wir auf und machen dabei ganz gute Fortschritte. Abends sind wir in der Ansteuerung und stehen vor der Frage, ob wir trotz frischen Nordwindes auf die Barentsee hinaussegeln wollen.
Mutig machen wir uns auf den Weg.
Sonntag, 23. Juli
Um 3.30 zerbricht unser Backbordschwert in der groben See. Bergeversuche scheitern, das Schwert treibt achteraus. Eine halbe Stunde später geht eine Schleppleine über Bord, gerät in die Schraube und stoppt die inzwischen gestartete Maschine. Jetzt wird es ernst! Mit gerefftem Grossegel können wir vor dem inzwischen starken Nordwind in die Pechorabucht zurücksegeln. Um 8.30 gehen wir zu Anker hinter den Sandbänken der Halbinsel Russki Zavorot.
Gemütlich ist es hier nicht, aber ruhig genug für Mikhail Tigushkin, einen Tauchgang im 6 Grad kalten Wasser zu wagen. Nach einer halben Stunde hat er die Leine von der Schraube gewickelt, nur mit Taucherbrille, Schnorchel und Neoprenanzug ausgrüstet. Was für eine Leistung, was für ein Mut! Der Wind nimmt weiter zu und gegen Abend gibt es Sturmböen. Die Sandbänke, hinter denen wir geankert haben, sind mitlerweile überflutet und wir liegen in ein bis zwei Meter hoher Welle. Da das Schiff sich im Gezeitenstrom nicht mit dem Bug zu den Wellen ausrichtet, sondern manchmal quer dazu liegt, schaukeln wir uns extrem auf. Sehr ungemütliche Situation. Von Frachtschiffen, die in der Nähe vor Anker liegen und ebenfalls auf Wetterbesserung warten bekommen wir den neuesten Wetterbericht: Sturm für mindestens weitere 3 Tage.
Montag, 24. Juli
Wir können hier nicht länger liegen bleiben. Um 7.00 starten wir die Maschine und brauchen alle Kraft und Tricks und Kniffe, um die Ankerkette hochzukurbeln. Nach einer dreiviertel Stunde sind wir in achterlicher Welle unterwegs zur Pechoramündung, Ziel Naryan-Mar. Die Bucht ist so aufgewühlt, dass wir keine Segel setzen mögen. Besser ist es, alle Konzentration auf das Festhalten zu verwenden. Nicht alle Wellen laufen unter der Petrine durch, einige überspülen die Reling bis zum Deckshaus.
Mittags haben wir die Barre der Pechora erreicht. Es wird ruhiger und wir können das zweifach gereffte Gross und die gereffte Fock setzen. Glücklich, gesund und erschöpft erreichen wir um 15.00 den Fluss, hier ist es ruhig und es kommt langsam wieder Leben in Schiff und Besatzung. Niemand ist seekrank geworden! Nur das Schwert ist zerbrochen, sonst sind Schiff und Mannschaft wohlauf! Die verbleibenden Meilen bis Narjan-Mar können wir segeln, später am Abend ungerefft und sehr schön.
Wir freuen uns an den ofenfrischen Croissants, die von heldenhaften Bäckern im Laufe der Nacht in vielstündiger Arbeit unter unmöglichen Bedingungen zubereitet worden sind. Und wir schmieden Pläne, wie wir an ein neues Backbordschwert kommen können.
Dienstag, 25. Juli
Um 2.30 machen wir wieder in Naryan-Mar unter den Hafenkränen fest. Nach dem Frühstück tauchen die alten Bekannten von Küstenwache und Hafenamt auf. Ernsthaft kontrolliert wird diesmal nicht: Wir kennen uns ja schon. Für Abends wird in der Stadt die Sauna gebucht. Der Wetterbericht macht uns keine Hoffnung.
Abends machen wir es uns auf der Pier gemütlich und grillen Rentierfilets. Nie haben wir so leckeres Fleisch gegessen, dazu frische Salate und Baltika 3. Wind und Nieselregen, Havarie und gescheiterte Pläne können die gute Laune nicht vertreiben. Mikhail nennt die Versammlung um den wärmenden Grill „The German Refugee Camp“.
Mittwoch, 26. Juli
Im Laufe des Tages werden die Reste des Backbordschwertes abgebaut und verwertbare Teile an Bord verstaut. Dank Mikhails Organisationstalent werden wir nächste Woche in Murmansk von einem neuen Schwert erwartet. Donnerstag soll es fertig sein. Bis dorthin müssen wir es ohne Schwert schaffen. Die Wettervorhersage verspricht ein wenig Besserung: Nordost 10 bis 12 m/s (5-6 Windstärken).
Donnerstag, 27. Juli
Früh morgens in Narjan-Mar: Der Wind hat auf Ost gedreht. Um 8.00 im Internetcafe: In der südöstlichen Barentsee am Freitagabend maximal 5 bis 6 Windstärken aus Nordost, Samstag und Sonntag abnehmend. Wir bestellen die Behörden auf 17.00 und werden dann erneut den Pechorafluss hinabfahren. Mal vorsichtig schauen, was uns auf See erwartet…
Unser zweiter Abschied aus Narjan-Mar wird von aufrichtigen Wünschen für eine gute und sichere Fahrt begleitet. Zumindest in diesem Jahr möchte man uns hier nicht mehr sehen, danach dann gerne wieder. Diesen Wünschen schließen wir uns gerne an. Die Fahrt stromabwärts beginnt sogleich mit bisher unbekannten Schwierigkeiten: Es zieht dichter Nebel auf. Im Instrumentenflug mit GPS, Lot und Radar ist die Flussfahrt auf der Pechora kein Problem, aber ausgerechnet heute haben wir erstmals nennenswerten Schiffsverkehr.
Um 6.00 haben wir das Delta achteraus. Der Nebel begleitet uns noch eine Weile, aber die Verkehrlage ist nun sehr übersichtlich. Die Wettervorhersage für die südöstliche Barentssee ist hart an der Grenze des erträglichen: Nord bis Nordost 8 bis 14 m/s. Am Nachmittag quälen wir uns durch bewegte See im Gulyewski-Fahrwasser auf die Barentssee hinaus. Wir können das gereffte Groß setzen und mit Maschine nach Nordwesten laufen. So entkommen wir den Sandbänken in Lee von uns und ab 17.00 können wir wunderbar mit achterlichem Wind nach westen segeln. Zeitweilig fliegen wir mit über 8 Knoten dahin, es ist das reine Vergnügen.
29. Juli, Samstag
Bis mittags haben wir bereits 150 Meilen zwischen uns und die Ansteuerung der Pechora gelegt. An Steuerbord liegt jetzt die Insel Kolguyew, in deren Schutz wir noch besser segeln können, denn hier erreichen uns weder Windsee noch Dünung. Ab spätem Nachmittag ist allerdings Schluss mit lustig: Wir verlassen den Landschutz, der Wind dreht nördlicher und wir haben alle Mühe, die nötige Höhe zu laufen. Die Halbinsel Kanin Nos droht in Lee, aus Norden rollen 3 Meter hohe Wellen heran und an unserer Backbordseite hängt kein Schwert. Zeitweilig sieht es so aus, als müssten wir in Cheshskaya-Bucht ablaufen, womit dann alle unsere Pläne für die Rückkehr nach Murmansk und Kirkenes durchkreuzt wären. Dann dreht der Wind aber wieder etwas nach östlicher und wir können die Fahrt nach westen fortsetzen.
30. Juli, Sonntag
Um Mitternacht hat es auf 6 Windstärken aufgefrischt und die Wellen sind entsprechend. Heute hat der Käptn Geburtstag, aber das Schiff ist nicht über die Toppen geflaggt und jede Feierei ist auf das Nötigste beschränkt. Unter den gegebenen Umständen ist es schon eine tolle Leistung, dass ein richtiger Geburtstagskuchen gebacken wird und dass sich sogar einige Gäste einfinden, die ihn mit Genuss verspeisen. Mittags haben wir Kanin Nos passiert und das ist heute auf jeden Fall das schönste und wichtigste Geschenk. Käme es nun noch dicker, so könnten wir nach Süden ins Weisse Meer ablaufen. Aber spät am Abend lassen Wind und Welle nach und die vielen Sorgen weichen der Freude über die vielen Meilen, die wir in den vergangenen Tagen zurückgelegt haben. Schneller als wir hoffen durften sind wir nach Westen vorwärts gekommen. Der Wetterbericht meldet für die südöstliche Barentssee erneut Sturm, an der Kolaküste dagegen soll sich ein Hochdruckgebiet durchsetzen. Da haben wir wohl den besten Zeitpunkt erwischt…
31. Juli, Montag
Das Hochdruckgebiet will sich heute noch nicht einstellen, es ist weiterhin bedeckt und kalt, 5 bis 8 Grad. Halb so schlimm, so lange wir bequem unseren Kurs anliegen können, solange das Meer weiter so ruhig daliegt, dass normales Leben an Bord möglich ist. Am frühen Nachmittag spiegeln sich im Süden die ersten Felsgipfel am Horizont: Die Murmanskküste, die Kolahalbinsel. Nach der fernen Pechorasee, den garstigen Leeküsten von Russki Zavorot und Kanin Nos erscheint die Kolahalbinsel wie ein Stück Heimat. Hier gibt es viele Fjorde und vorgelagerte Inseln hinter denen wir uns bei schlechtem Wetter verstecken könnten. Nötig haben wir das nun nicht mehr, denn es weht nur noch schwacher Wind aus östlichen Richtungen.
1. August, Dienstag
Ab Mitternacht fahren wir unter Maschine, denn es weht nur noch ein ganz laues Lüftchen. Murmansk kommt immer näher, die Sonne setzt sich durch und um 10.00 machen wir im Kildrinsund an einer Mooringboje fest. Das Rentierfleisch aus Narjan-Mar muss nötig gegrillt werden, dazu fehlte es bisher an Gelegenheit. Leider dürfen wir auf der Insel Kildrin nicht an Land gehen, was einigermaßen verständlich ist, denn im Fernglas sehen wir viele Bunkeranlagen und unterirdische Stollen, dazu reichlich Schrott und verfallene Häuser, die das Militär beim Abzug zurückgelassen hat.
Wir lassen uns die Rentiere und den Nudelsalat schmecken, genießen die Ruhe und den Sonnenschein. Um 15.00 können wir Segel setzen und die letzten 20 Meilen zum Kolafjord mit flotter Fahrt vor dem Wind zurücklegen. 20.15 kommt im Fjord der Lotse an Bord bei wunderschönem Sonnenschein. Der knallrote Eisbrecher Jamal kommt uns entgegen auf einer touristischen Fahrt zum Nordpol. Um Mitternacht machen wir in Murmansk fest, diesmal ohne größere Formalitäten. 630 Seemeilen haben wir von Narjan-Mar bis hierher zurückgelegt. In 5 Tagen. Ohne Backbordschwert.
2. August, Mittwoch
Die Sonne scheint, die Waschmaschine läuft. Wir haben gut gefrühstückt. Das Schwert soll bereits fertig sein, morgen können wir es anschauen und anbauen. Die Welt ist in Ordnung.
3. August, Donnerstag
Am Nachmittag kommt ein riesiger Gabelstapler an die Pier gefahren, auf den Gabeln liegt ein Backbordschwert, 5 mal 2 Meter groß, eine knappe Tonne Gewicht. Etwa eine Stunde später hängt das Schwert längsseits. Kameras werden abgebaut, die Schaulustigen zerstreuen sich. Nach zwei Stunden ist das Schwert schwarz angemalt und in den nächsten Tagen wollen wir es mal auf seine Brauchbarkeit testen. Jetzt hängt jedenfalls ein Stück Murmansk an der Petrine.
Am Nachmittag bekommen wir dank Mikhails diplomatischem Geschick eine Genehmigung zum Besuch an Bord des Schiffes Tara. Eine französische Jacht, die sich im Nordpolareis einfrieren lassen wird und über den Nordpol treiben lassen will. Seit Fridtjof Nansen vor 110 Jahren hat dies niemand mehr versucht. Alle sind schwer beeindruckt von Technik und Komfort an Bord und vom Mut der Crew. Um 20.00 wird ausklariert, dann segeln wir los nach Kirkenes.
4. August, Freitag
Es kommt anders: Um 1.40 können wir endlich ablegen. Geschlagene fünfeinhalb Stunden haben die Zollbeamten gebraucht, um eine alte Geige zu finden, die einen Aufkleber hat, auf dem „Stradivari“ steht. Stradivari, das weiss der Zöllner, das sind sehr teure Geigen, die dürfen nicht ausgeführt werden. Die Geige wird beschlagnahmt, das steht schnell fest. Aber einfach ist auch das nicht. Mehrere Mobiltelefone laufen heiss.
Im Stundentakt werden Sachverständige, zertifizierte Übersetzer, Beschlagnahmer, diverse Chefs hinzugezogen. Das ganze ist zum Glück kein ernsthafter Zwischenfall, sondern absurdes Theater, das mit einem sehr russischen Finale endet: Der Käptn unterschreibt die restlichen Formulare blanko, die Zöllner füllen sie dann in den kommenden Tagen aus. Die lange Diskussion und die vielen Scherze über „Stradivari“ haben doch auf beiden Seiten erhebliches Vertrauen wachsen lassen. Sobald die Experten festgestellt haben, dass es sich um eine Kindergeige ohne grossen Wert handelt, soll uns die Geige nach Deutschland zugeschickt werden.
Morgens beim Wachwechsel können wir vor dem Kolafjord Segel setzen und ein frischer Ostwind treibt uns dem Varangerfjord entgegen. Dies wird noch einmal ein richtig schöner Segeltag entlang der Rybaschi-Halbinsel. Um 21.00 queren wir die Seegrenze; Norwegens Küste liegt nun voraus.
5. August, Samstag
Um 4.30 russischer, also um 2.30 mitteleuropäischer Zeit machen wir in Kirkenes fest und freuen uns über die glückliche Ankunft. Was für eine Reise: 1875 Seemeilen durch den schlechtesten Sommer, den es im Norden seit Beginn der wetteraufzeichnung gegeben hat. Nie gab es so viel Regen, dazu ganz ungewöhnlich viel Wind. Wir sind nicht ungeschoren davongekommen, mussten unsere hochfliegenden Pläne reduzieren und viel Zeit und Geld aufwenden, um heile zurückzukehren. Aber wir können auch richtig stolz darauf sein, diese Tour mit ungebrochen guter Laune bewältigt zu haben. Russland- und Arktistauglich dürfen wir uns nennen!