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Das Abenteuer (16. Juli – 13. August 2000)

Sonntag, 16. Juli
Um 15:00 Uhr sind alle Mitsegler an Bord. Alle sind munter und zuversichtlich und gespannt, was uns die Reise bringt…
15:35 Uhr Leinen Los in Kirkenes. Der Himmel ist bedeckt, es weht eine ganz leichte Brise aus Nord, wir motoren nordwärts aus den Fjorden heraus. Norwegen war ein wunderschöner Traum. Fast 2000 Seemeilen sind wir durch Schären, Fjorde, Sunde und um berühmte Kaps gesegelt.
Jetzt gehts ins Unbekannte… 130 Seemeilen bis Murmansk.

22:30 Uhr Petrine überquert die norwegisch-russische Seegrenze in der Barentsee.

Montag, 17. Juli
2:00 Uhr Nördlich der Rybacji-Halbinsel können wir Segel setzen. Ständig suchen wir die unbekannte Küste mit den Ferngläsern ab. Viel Treibholz am Strand, also leben wenige Menschen hier. Auf dem Kap Nemetski (d.h. „Deutsches Kap“) ein riesiger Antennenwald. Gegen 6:00 Uhr verläßt uns der Wind und wir fahren wieder unter Maschine, Kurs auf die Mündung des Kola-Fjords. Der liegt im Nebel und so sehen wir ihn zunächst nur auf dem Radar. Um 14:00 Uhr klart es auf, dazu Wind, also segeln wir im Fjord unter vollen Segeln auf Murmansk zu. Die Städte Severomorsk und Murmansk sind riesige Häusermeere, besser: Häusergebirge. Beeindruckend die russische Eisbrecherflotte, die hier an der Pier liegt. 10 geschossige Brückenaufbauten, supergut gepflegt, atomgetrieben bringen sie 75000 PS ins Wasser. Hoffentlich werden sie eines Tages anders entsorgt als die vielen Wracks, die hier das Fahrwasser säumen. Schiffsfriedhof im Kola-Fjord, einer von vielen
20:20 Uhr Ortszeit. Petrine Fest in Murmansk. Zoll, Gesundheitsbehörde und Immigration sind mit unseren Papieren und Auskünften zufrieden. Trotz fehlendem Entrattungszertifikat genehmigen sie unsere Einreise und unsere Route durch den Onego-Weißmeerkanal.

Dienstag, 18. Juli
Wir sammeln Eindrücke im Häusergebirge Murmansk, die Murmansker sammeln Eindrücke vom Schiff und von uns. Passantan, Presse und Fernsehen stellen viele Fragen. Dank unseres Agenten Vladislaw finden wir uns im Hafen, in der Stadt, auf dem Markt, in den Geschäften bestens zurecht. Um 19:30 Uhr legen wir ab. Nach einem langen Ton aus dem Nebelhorn und viel Winken tuckern wir aus dem sonnigen, windstillen Kolafjord hinaus.

Mittwoch, 19. Juli
Im Glanz der Mitternachtssonne zeigt sich die nördliche Felsenküste der Kola-Halbinsel von ihrer schönsten Seite. Um mal zu testen, was wir so dürfen, fahren wir durch den engen Sund zwischen der Insel Kildin und dem Festland. Auf der Insel brennt ein Lagerfeuer am Strand, ein Fischerboot legt an. Wir müssen weiter, denn Anlegen ist uns nicht gestattet. Jagende Seehunde erfreuen uns, dazu Vogelfelsen, Schneefelder und die abwechslungsreiche Felsenküste mit vielen Fjorden, Buchten und Kaps.
Nachmittags kommt Wind auf, leider von vorne und mit 5 bis 6 Windstärken. Um überhaupt Fahrt zu machen, müssen wir Vollgas fahren. Zeitweise laufen wir gegen den Gezeitenstrom trotzdem nur mit 2 Knoten. Es tröstet die Mitternachtssonne (zum letzten Mal) und es trösten die vielen Luftspielgelungen, typisch für arktische Gewässer. Wir sehen ein Schiff, dass auf dem Kopf fährt, eine haushohe Flutwelle, die den Horizont ausbeult, eine Baustelle an Land, die plötzlich wieder weg ist, wir sehen Land, wo keines sein kann, vielleicht das gespiegelte Novaja-Semlja?

Donnerstag, 20. Juli
Das gestrige Gebolze gegen den Wind hat den Tank vorzeitig geleert. Kein Problem, wir übernehmen ein paar hundert Liter von einem entgegenkommenden Schiff. Überaus freundliche Leute. Nach gegenseitiger Schiffsbesichtigung tuckern wir weiter die Küste entlang, was wegen der vielen Luftspiegelungen garnicht so einfach ist. Alle 10 bis 20 Meilen gibt es Buchten oder Fjorde, in denen wir bei schlechtem Wetter Schutz suchen könnten und vor allem auch dürften. Bloß es ist ja kein schlechtes Wetter. Sonnenschein und Windstille. Also muß der Gezeitenstrom als Ausrede herhalten. Mikhail fragt über Funk, ob wir den widrigen Strom in einem Fjord abankern dürfen. Sofort erhalten wir die Genehmigung und eine Einladung, Fischersiedlung, Leuchtturm und Militärstandort zu besichtigen. Sie fragen, ob sie schon mal die Sauna vorheizen sollen. Wir können unser Glück kaum fassen! In dieser Nacht wird niemand von uns schlafen. Wir werden unglaubliche Dinge sehen und erleben. Wir essen Fischsuppe mit den Fischern, hören ihre Lieder, singen selber ein paar Lieder zur Laute, während ganz im Norden, welch Anblick, die Sonne hinter dem Horizont versinkt.
Die Häuser sind auf eine atemberaubende Blumenwiese am Hang gebaut, die Sauna ist geheizt. Der Kommandant will uns sprechen. Zum Glück ist es ein weiter Fußweg, durch die Dämmerung, durch Sümpfe, über wundervolle Moose und Flechten, durch subarktische Tundralandschaft, vorbei an Felsen und Seen, in Begleitung von Dimitrij, Sascha, Mikhail, Maxim. Der Kommandant erzählt vom zweijährigen Leben der Wehrpflichtigen in dieser Einsamkeit, ohne Urlaub, ohne Familie, ohne eine Straße oder eine andere Verbindung zur Außenwelt. Die Sauna ist bereits auf 90 Grad vorgeheizt, aber lange können wir sowieso nicht drin bleiben, denn die Jungs wollen erzählen, erzählen, erzählen. Das klappt ganz gut, obwohl niemand von uns russisch spricht. Dann noch einmal der schöne Fußweg, zurück zu den Fischern und zum Schiff.

Freitag, 21. Juli
Um 5:00 Uhr sind alle wieder an Bord, wir gehen Anker auf. Viel Gewinke und Gerufe durch die Bucht. Als wir eine Stunde später bei den Soldaten vorbeikommen, wollen wir das Nebelhorn tuten lassen, da entdecken wir zwischen uns und der Küste, nicht weit entfernt, weiße Wale. Wir könnens nicht fassen! Die Schlafenden werden aus den Kojen geholt, alle versammeln sich an Deck und schauen den Belugas zu, die in den Gezeitenwirbeln vor dem Kap Fische jagen. Was für ein Tag! Was wird er uns noch bringen? Wind aus Nordost! Um 15:00 Uhr schweigt endlich der Diesel und wir laufen unter vollen Segeln bis zu 8 Knoten. Um 17:00 Uhr queren wir den Polarkreis in „verkehrter Richtung“. Zwiespältiges Gefühl… Wir haben den inneren Teil des Weißen Meeres erreicht. Die Abschnitte „Hoher Norden“ und „Hohe See“ liegen hinter uns. Beides super gelaufen.

Samstag, 22. Juli
10:00 Uhr: Weißes Meer, 66 Grad nördliche Breite, 40 Grad östliche Länge, Wind Nordost 3, alle Segel gesetzt, Wache sitzt im T-Shirt achtern, singt und spielt Gitarre. Freiwache pennt in der prallen Sonne. Unsere größten Sorgen: Genug mit Sonnenschutz eingecremt? Was essen wir heute? Lachssuppe oder Lachskotelett? Wir segeln 24 Stunden bei konstantem Wind mit 6 bis 7 Knoten.

Sonntag, 23. Juli
Während der kurzen Dämmerung entzücken uns phänomenale Lichterscheinungen. Wetterleuchten, dann Blitze über den ganzen Himmel, ständig wechselnde Beleuchtung, schließlich ein flammender Sonnenaufgang: Das Weiße Meer zeigt sich von der schönsten Seite. Segeln im Weißen Meer, was kann schöner sein
8:20 Uhr Fest auf der Solowetzki-Insel. Ein Tag mit geschätzten 25 Grad im Schatten, vielen netten Menschen, die unser Schiff besichtigen wollen, einem 500 Jahre alten Kloster mit Zwiebeltürmchen, von Stalin 10 Jahre lang als Arbeitslager mißbraucht. Abends schwitzen wir in einer phantastischen Saunaanlage an einem idyllischen See.

Montag, 24. Juli
Sonnen, schwimmen, besichtigen auf der Solowetzki-Insel. PETRINE hat vor das Kloster Solovetsk verholt 17:00 Uhr Ablegen. Wir können mit achterlichem Wind Kurs auf Belomorsk nehmen, der Einfahrt zum Onego-Weißmeer-Kanal.

Dienstag, 25. Juli
0:45 Uhr Vor Anker an der Ansteuerung von Belomorsk. Über Nacht frischt es dann derartig auf, dass man uns keinen Lotsen schicken kann. Wir gehen Anker auf in 1,5 Meter hoher Welle und fahren um 9:30 Uhr – als erstes Schiff überhaupt unter deutscher Flagge! – in die erste Kanalschleuse ein. Die erste von 19 Schleusen des Bjelomor-Kanals liegt vor uns Die 1. Schleuse ist geschafft, der Bjelomor-Kanal liegt vor uns Der Kanalchef in Belomorsk ist ganz begeistert davon, dass so ein altes Segelschiff durch den Kanal fahren wird. 91 Jahre alt, das kann er kaum glauben. Hier ist noch nie ein so altes Schiff durchgefahren. Weiterfahren können wir heute nicht: Mittlerweile weht es in Sturmstärke und die Eisenbahnbrücke kann bei so viel Wind nicht öffnen. Alle Zweifel, ob wir denn nun tatsächlich den Kanal befahren dürfen, verfliegen angesichts der überaus freundlichen Behandlung durch den Kanalchef hier in Belomorsk. Wir dürfen weiterfahren, sobald der Wind nachläßt!

Mittwoch, 26. Juli
Auch heute keine Brückenöffnung. Wir kaufen ein, wir machen einen Busausflug zu den berühmten Felsmalereien am Wygfluss, 6000 Jahre alt. Wir besuchen ein Museum über die Seefahrerkultur der Pomoren, die Handel getrieben haben bis Alaska. Im Museum auch eine Ausstellung über den Kanal. Von 1931 bis 33 ist er in nur 20 Monaten Bauzeit entstanden. Von Zwangsarbeitern gebaut, die nur Nahrung bekamen, wenn sie ihr Tagessoll erfüllten. Die unvorstellbare Zahl von 100000 Toten während des Kanalbaus wird vom Kanalchef bestätigt. Er zeigt auf eine Stelle hinter dem Kanalbüro, wo Tausende in einem Massengrab verscharrt wurden. Bei den Erweiterungsbauten an den Schleusen mußte man sich durch Leichenberge graben. So erzählt der Kanalchef; im Museum erinnert nichts an die Toten, dafür umso mehr Bilder von sozialistischen Helden des Kanalbaus, Bilder von Stalin an Bord an Bord des Schiffes „Karl Marx“, das als erstes den Kanal befuhr.

Donnerstag, 27. Juli
Immernoch Sturm, immernoch keine Brückenöffnung möglich. Wir fahren mit dem Bus nach Sumski-Pasad, einem alten Pomorendorf. Es war das sogenannte „Kapitänsdorf“. Hier war die Seefahrtsschule der Pomoren, hier standen auch mehrere alte Kirchen. Alles wurde in den 30er Jahren von den Kommunisten abgerissen und stattdessen ein Gefangenenlager eingerichtet. Eine pensionierte Lehrerin führt uns durch das Dorf und durch ihr Haus. Die Schule ist leider heute geschlossen, die Schüler sind zum Beerenpflücken im Wald. Die Lehrerin erzählt so lebhaft, dass Mikhail kaum übersetzen muß. Die Lehrerin von Sumpasad
Auf einer Insel im Fluß, unter einem Holzdach, zu erreichen über eine verfallene Brücke, sehen wir ein 300 Jahre altes Fischerboot, von Peter dem Großen persönlich dem Dorf geschenkt. Deswegen sind wir hergekommen, aber das eigentliche Ereignis ist die Lehrerin, 70 Jahre alt und voller Energie und Pläne.

Freitag, 28. Juli
Der Wind läßt nach, der Lotse kommt an Bord! Um 16:00 Uhr können wir endlich die Eisenbahnbrücke passieren. Danach werden wir von mehreren Doppelschleusen sehr zügig hochgeschleust. Schleusen im Sonnenglanz Zwischen den Schleusen fahren wir auf dem aufgestauten Wyg-Fluß durch eine schöne, waldreiche Flußlandschaft. Im Sonnenschein glänzen die Dörfer und die Schleusenhäuschen und da keine anderen Schiffe auf dem Kanal fahren, kommen wir flott voran.

Samstag, 29. Juli
Um 2:00 Uhr laufen wir im Nebel auf Grund. 3 Stunden mühen wir uns mit Beiboot, 2 Ankern, vielen Leinen und Maschine, aber wir sitzen sehr gründlich fest. Nebenbei freuen wir uns an der Morgendämmerung, die immer heller durch den Nebel scheint. Um 6:00 Uhr schleppt uns ein vorbeifahrendes Schiff frei. Um 9:30 Uhr erreichen wir den Wyg-See, vor uns 35 Seemeilen inselreiches Gewässer, dazu eine leichte achterliche Brise, wir können alle Segel setzen. Um 20:00 Uhr gehen wir bei einer kleinen Insel zu Anker. Feuerchen am Strand, schwimmen im warmen See, Pilze und Blaubeeren werden gesammelt. Auch nachts (mittlerweile dunkel) könne wir im T-Shirt an Deck sitzen und rätselhafterweise gibt es kaum Mücken…

Sonntag, 30. Juli
Der Tag beginnt mit lustigen Liedern, einem über die Toppen geflaggten Schiff und viel Kuchen, denn der Käptn hat heute Geburtstag! Um 14:00 Uhr erreichen wir den Vod-See, 103 Meter überm Meeresspiegel und damit der „Höhepunkt“ unserer Reise und der 91jährigen Petrinegeschichte.
Abends machen wir ein Feuerchen, grillen, erzählen und singen bis morgens um 3:00 Uhr.

Montag, 31. Juli
Schon um 6:00 Uhr gehen wir Anker auf, steigen über 7 Doppelschleusen zum Onegosee hinab, wo wir um 11.30 Uhr in Povenets festmachen, um den Lotsen zu wechseln. Weiter gehts in prallem Sonnenschein nach Süden. Segelversuche enden zweimal in der Flaute mit allgemeinem Badevergnügen. Um Mitternacht ankern wir vor der Ansteuerung zur Kizhi-Insel. Insel im Wyg-See

Dienstag, 1. August
9:30 Uhr machen wir nach 2stündiger Fahrt durch die Schären auf der Insel Kizhi fest. Kishi von „vorn“: Touristen-Blick Ein Tag an Land, wieder mit Sonne, 25 bis 30 Grad und einer interessanten Führung durch Freilichtmuseum Kishi hat mehr zu bieten als nur Kirchen: Bauernhof mit jahrhundertealtem Familien-Stammbaum und 300 Jahre alte Holzkirche mit 22 Zwiebeltürmchen auf dem Dach. Hier haben wir erstmals nicht mehr das Gefühl, die einzigen Touristen in Karelien zu sein, denn es legen viele Flußdampfer hier an, die von Moskau oder St.Petersburg hierherfahren. Um 18:00 Uhr gehts weiter. Als wir die Schären achteraus haben segeln wir mit Kurs Südwest und vollen Segeln auf Petrozavodsk zu. Hauptstadt von Karelien und Wohnsitz der Hälfte aller Einwohner Kareliens.

Mittwoch, 2. August
2:00 Uhr Fest in Petrozavodsk.
8:00 Frühstück in strahlendem Sonnenschein. Anschließend Fernsehinterviews mit dem Kapitän den ersten deutschen Schiffes im Onego-Weissmeerkanal. Die Ministerpräsidenten von Russland und Karelien haben sich gestritten über die Öffnung des Kanals für ausländische Schiffe und Jachten. Darum soll das Interview in den landesweiten Nachrichten ausgestrahlt werden. Ich erzähle, wie schöen Karelien ist, wie freundlich alle Menschen zu uns sind, besonders auch die Küstenwache und die Armee.
Bestimmt werden viele Jachten den Kanal befahren wollen und ich verspreche, in Deutschland darüber zu berichten und dafür zu werben, dass viele deutsche Touristen und Schiffe nach Karelien kommen. Die anwesenden Vertreter der karelischen Regierung strahlen.
Derweil besichtigt die Crew Petrozavodsk, im Gegensatz zu Murmansk eine schöne, gewachsene Stadt mit vielen alten Häusern. Abends sind wir zu karelischer Folkmusik ins Theater eingeladen. Das fetzt! Abends hat Mikhail, unser nimmermüder Dolmetscher und Allesorganisator die „beste Folkgruppe der Stadt“ aufs Schiff eingeladen. Fetzige Musik auf traditionellen Instrumenten, mit Gitarre und Kontrabass und, was besonders erstaunt und begeistert: einer ordinären Säge werden sphärische Klänge entlockt, die jedes Gespenst vor Wonne schaudern liessen! Dazu singen sie immer wieder russische und irische Volkslieder, auch die anderen anwesenden Russen bringen Ständchen. Angesichts der überwältigenden musikalischen Qualität, sind wir heute zu verschüchtert, unsere üblichen Shanties zu schmettern … Unser einzig würdiger Musik-Vertreter

Donnerstag, 3. August
3:00 Uhr Relative Ruhe im Schiff.
7:00 Uhr Frühstück und Aufbruch zum Kivatsch-Wasserfall. Schlafen im Bus. Währenddessen verholen die auf dem Schiff gebliebenen die Petrine zum Petrozavodsker Maritime-Center. Hier ist die Heimat von Polar Odyssee. Dieser Verein baut traditionelle Schiffe der Pomoren nach und ist damit bereits nach Spitzbergen, durch die Nordostpassage nach Alaska und auf die Kanaren gesegelt. Das Urgestein des Museumshafens Petrosawodsk: Kotch „POMOR“ Wohlgemerkt: Offene Boote ohne Maschine, mit Segeln aus Leinen. Das sind meine persönlichen Polarhelden, wir sind alle Warmduscher… Aber vielleicht bessern wir uns noch?
Nachmittags kommen die Wasserfall-Ausflügler aus dem karelischen Wald zurück und erholen sich größtenteils weiter in die Stadt.

Freitag, 4. August
Letzte Erledigungen in Petrozavodsk, heute Abend wollen wir ablegen. Doch da sind unsere karelischen Freunde anderer Meinung und wissen auch, wie sie uns packen können: Die Musiker werden wieder eingeladen und auf einem benachbarten Musikdampfer wird eine mittelschwere Party improvisiert, über die ich hier besser nichts berichte…

Samstag, 5. August
Um 6:30 Uhr kommen die letzten an Bord: Zum Teil aufrecht, zum Teil auf allen vieren, einer ist sogar ein erhebliches Stück geflogen…
10:00 Uhr Noch ein wenig schief geladen verabschieden wir uns vom Maritime Center. Das Flaggschiff „St. Nicolai“ Die „SWJ. NIKOLAI“ begleitet uns zum Abschied segelt mit raus und schießt Salut aus einer echten Kanone. Ein wunderschöner Segeltag auf dem Onegosee, immer die Westküste entlang nach Süden. Wer es schon wieder verträgt, schaut sich im Fernglas die Dörfchen an.

Sonntag, 6. August
2:00 Uhr Vor Anker auf der Reede von Voznesene, wo der Fluss Swir aus dem Onegosee hinausfliesst.
7:00 Uhr Lotse Igor kommt an Bord. Bei strahlendem Sonnenschein motoren wir auf dem Fluss in Richtung Ladogasee, 120 Seemeilen bis dort. Die waldgesäumten Flussufer, der Sonnenschein und die schönen Dörfer am Ufer erfreuen unser Auge. Dorf am Swir Dazu das gute Essen…
Es stört uns nicht, als wir um 14:00 von einer nicht öffnenden Brücke aufgehalten werden. Wir suchen Pilze im Wald, schwimmen im Fluss, heizen die Sauna. Wer sich wundert, daß wir in einem ja angeblich so schmutzigen russischen Fluss schwimmen, dem sei gesagt: Im Kanal, auf dem Onegosee und auch im Swir haben wir sogar den Trinkwassertank direkt aus dem Gewässer befüllt. Das Wasser ist supersauber und ohne weiteres trinkbar.

Montag, 7. August
Die Brücke in Podporoze öffnet wie versprochen um 10:30 Uhr und weiter geht’s den Swir hinab. Segeln dürfen wir hier nicht (könnten wir bei widrigem Wind auch gar nicht), Lotse Igor vertröstet uns auf den Ladogasee. Sein Vater war übrigens Deutscher, was dazu führte, dass seine Familie bereits kurz nach seiner Geburt 1941 aus der Wolgarepublik nach Kasachstan in Internierungslager deportiert wurde. Nach 8 Jahren dort ist er bei Verwandten im Kaukasus aufgewachsen. Als Kapitän hat er viele deutsche Häfen kennengelernt, nun ist er Lotse auf Binnenwasserstrassen. Die Petrine muss eine ziemliche Zumutung für ihn sein: Keine eigene Kammer, bei jedem Wind draussen stehen, dauernd andere Leute am Ruder…
Abends gehen wir an der Mündung des Swir in den Ladogasee vor Anker. Landerkundung des Dorfes Sviritsa ergibt: Reicher Leute Datschengegend, wahrscheinlich aus St. Petersburg. Benze vor der Tür oder auch ein Wasserflugzeug oder auch beides.
Wunderschöner Sonnenuntergang über dem Schilfufer, fast ohne Mücken.

Dienstag, 8. August
Ein Tag auf dem sonnigen Ladogasee, frischer Westwind, gegen den wir die meiste Zeit per Maschine fahren, zwischendurch mal ein bischen kreuzen. Der See ist so gross, das wir lange Zeit gar keine Ufer sehen, in keiner Richtung. Wie auf Hoher See… Wäre wohl gross genug für einen 2wöchigen Segelurlaub, der Ladogasee mit seiner Schärenküste im Norden.

Mittwoch, 9. August
1:00 Uhr Vor Anker in Slisselburg, wo die Newa aus dem Ladogasee nach St. Petersburg fliesst.
8:00 Uhr Brücke öffnet, weiter gehts bei bedecktem, eher ungemütlichen Wetter. Zwischendurch ein Päuschen am Flussufer oder auf Reede, um auf Brückenöffnungen zu warten. Gut, dass wir flussabwärts fahren. Es strömt ständig mit mindestens 2 Knoten, gelegentlich mit 4 Knoten. Die Newa ist kein so schöner, natürlicher Fluss wie der Swir. Stadt- und Industrielandschaft statt bewaldeter Ufer. Ab 14:00 Uhr warten wir, längsseits bei einem Frachtschiff festgemacht, auf die nächtliche Öffnung der Brücken in St. Petersburg. Wir warten auf die nächtliche Öffnung der Brücken

Donnerstag, 10. August
2:45 Uhr Maschine an und Los zur Durchfahrt von 8 Brücken in St. Petersburg. 28 Schiffe wollen mit uns in gleicher Richtung durch, ungefähr genausoviele kommen von vorn. Um die Dramatik noch zu steigern wird es in den kommenden 2 Stunden soviel regnen, wie in den vergangenen vier Russlandwochen insgesammt. Im Funkgerät Hektik und Geschrei auf allen Kanälen, Lotse Igor mischt kräeftig mit, steht auf Zehenspitzen, 60 Jahre und wippt plötzlich federleicht auf den Zehenspitzen, schreit immer wieder „full ahead !!!“ und gleich darauf „more speed, more !!!“. Erklärt dann wieder seelenruhig, wie der Strom in der nächsten Brückendurchfahrt setzt, deutet mit der Hand feinfühlig wie ein Dirigent die Richtung an, in die wir Ruder legen sollen, brüllt gleich darauf wieder was ins Funkgerät, flucht wahrscheinlich auch, dass er nicht wie es sich gehört auf einer beheizten Kommandobrücke sitzen kann, sondern hier im Regen steht. Rechts und links ziehen die Lichter der Grossstadt vorbei, wir laufen bis zu 10 Knoten und hoffen inständig, dass Viktor die Verkehrslage überblickt.
4:15 Uhr Winterpalast Backbord querab, Peter-Paul-Festung an Steuerbord, ein schneller Blick, dann geht es rechts ab in die Kleine Newa, noch 2 Brücken und wir gehen zu Anker. Wir habens geschafft…
Um 6:00 Uhr gehts mit neuem Lotsen weiter zu unserem Liegeplatz, auf dem Weg dahin, nach 3 Monaten endlich wieder, dank dem starken Westwind sogar in erheblicher Höhe, im Kanal bisweilen ersehnt: Ostseewellen!!!
Voraus die freie See, Russland ist durchquert!
7:00 Fest im Jachthafen auf der Kretovsky-Insel.

10. bis 13. August
Wir erkunden St. Petersburg, eine Stadt, die wohl mit London, Paris, Berlin in eine Klasse gehört. Schauseite der Eremitage Die Moika – einer der schönsten Kanäle Aber wir stellen auch fest: Die Küste ist der Feind des Seemanns und die Städte sind sein Ende…
Ende wars für viele unserer Mitsegler, die am Freitagabend in den Zug nach Berlin gestiegen sind. Anfang ist’s für neue Mitsegler, die zum Teil Schwierigkeiten hatten, weil Weißrußland 2 Tage zuvor Visumspflicht für deutsche Transitreisende eingeführt hatte. Mit dem Flugzeug sind dann doch alle rechtzeitig in St. Petersburg angekommen. Zum Schluß also die erste nennenswerte bürokratische Schwierigkeit!

Für unsere heimreisenden Mitsegler war’s noch lange nicht zuende: Um 3.00 Uhr morgens an der weißrussisch-polnischen Grenze werden sie freudlich, aber bestimmt aus dem Zug geholt. Sie besitzen kein weißrussisches Transitvisum. Dieses ist seit 3 Tagen obligatorisch!
Alle müssen zurück nach Minsk, dort Geld besorgen, unglaubliche bürokratische Hürden überwinden, um 12 Transitvisa zu bekommen (kosteten 60 Dollar pro Stück), während ein Teil der Gruppe den Tag wartend auf dem Bahnhof verbringt. Gestrandet in Brest: 12 Ausgesetzte auf dem Weg zurück nach Minsk
Schließlich sind alle am Montagmittag (also 24 Stunden später als geplant) in Berlin. Wir wissen nun, was uns in Rußland erspart geblieben ist: In Rußland haben wir keinerlei bürokratische Willkür erlebt.

Über den Autor
Jochen Storbeck segelt seid 1991 mit der Petrine